"Mein Lebensweg" JOSEPH SCHWAB (*1884 Gering/Maifeld)

Vorwort

Aus irgendeinem Anlaß – bei Gelegenheit des Nachweises meiner arischen Abstammung vor nunmehr 8 Jahren – schrieb ich kleine Erlebnisse aus meiner Jugendzeit nieder, gab sie meinen Kindern zum Lesen, und sie gefielen ihnen.

„Erzähle weiter, Vater!“ baten alle, und ich schrieb mehr.

Erinnerungen wollte ich die Aufzeichnungen nennen.

Doch das kommt schließlich nur gekrönten Häuptern und hohen Würdenträgern zu. Sie schreiben Memoiren.

Ich lasse den Leser meinen „Lebensweg“ begleiten, so wie es sich ergab, als ich die längst vergilbten Blätter in meinem Gedächtnisse, zum Teil leserlich, zum Teil kaum noch zu entziffern, der Reihe nach umwendete, ferner Notizen aller Art durchstöberte und dann alles zu einem Gesamtbilde ordnete.

Für meine Kinder , für Enkel, Urenkel usw. sind diese Blätter in erster Linie bestimmt, damit mein Name dereinst in der Ahnenreihe kein totes Wort ist. Diese bittere Erkenntnis kam mir, als ich z.B. feststellte, daß zwei meiner Ahnen Lehrer waren, deren Leben und Wirken ich so gern nachgespürt hätte. Meine Nachkommen sollen es leichter haben, sie sollen aus der Quelle des Lebens schöpfen, und dieser Born möge nie versiegen!

Wenn die Aufzeichnungen auch keinen Anspruch auf schriftstellerischen Wert machen wollen, so glaube ich immerhin, daß ihre Erhaltung und Weitervererbung gerechtfertigt erscheint, und daß ich dadurch auch einen bescheidenen Beitrag zur heutigen Ahnenforschung geleistet habe.

 

Menden, im Frühjahr 1942. gez. Schwab

I. Im Elternhaus

 

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Glücklich, ein Landjunge gewesen zu sein

 

Glücklich kann ich mich nennen, daß ich auf dem Lande geboren wurde und auch dort meine Jugend verbrachte. Ist doch ein Landdörfchen mit all seinen kindlich naiven Reizen der Boden, auf dem ein Junge in natürlicher, freier Entwicklung gedeihen kann. Da gibt es keine Hemmnisse der Großstadt. Nicht ans enge Zimmer ist der die Bewegung suchende Knabe gebunden. Keine polierten Möbel, keine Läufer und dergl. mehr zwingen ihn zum Inachtnehmen. Seine kräftige Lunge kann such betätigen, ohne den Etagenbewohner über oder unter sich zu stören. Ein derber Tritt auf der Treppe wird ihm nicht verargt. Er wächst natürlich auf, wie es eben die Natur gibt und verlangt. Und reich an Idyllen ist so ein Dörfchen!

Daher nochmals: Ich bin glücklich, ein Landjunge zu sein.

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Da, wo Rhein und Mosel mit Nette und Elz das gesegnete Maifeld umschließen, ward ich geboren.

Von Städten weit entfernt liegt mitten in fruchtbaren Ackersfluren das Dörfchen  G e r i n g. Das Wort gering trifft zu; denn wirklich gering ist es an Baulichkeiten und Einwohnerzahl. 52 Häuser beherbergen seit meines Daseins durchweg 250 biedere Maifelder die mit den Eiflern, wie man sie ab und zu nennt, nicht verwechselt werden wollen, wenngleich auch das Maifeld auf der Karte zur Eifel zählt.

Auch mir klebt dieser Stolz noch heute an, obschon ich durch den Umgang mit andern Menschen von manchen Eigenarten meiner Ahnen mich befreit habe.

Eigenartig sind die Maifelder und besonders auch die „Geringer“.

Mein alter Lehrer Pies, ein Hunsrücker – übrigens auch ein Mann mit Eigenarten –pflegte die Geringer mit den knorrigen Eichen zu vergleichen, die auf dem Maifelde in besonders knorriger Form wachsen. Er konnte zeitlebens mit ihnen nicht „fertig“ werden.

Nun meine ich aber, daß der Eichbaum ein sehr widerstandsfähiger Baum ist, und heute gefällt mir der Vergleich meines Lehrers Pies sehr gut.

Denn ausdauernd ist der Maifelder, und er erreicht etwas. Nicht umsonst hatten die Bewohner eines Nachbardorfes den Namen „Kolliger Dickköpfe“. Es mag auch nicht von ungefähr gewesen sein, daß es in Gering so viele Schwaben gab und noch heute gibt, von denen Uhland schreibt:

„Doch der wackre Schwabe forcht sich nitt, Ging seines Weges Schritt für Schritt“.

Nicht minder tapfer und ausdauernd, knorrig und unbeugsam sind die andern Dorfbewohner, die eine Reihe von Generationen zählen: Die Kolligs, die Fabers, die Reicherts, die Paulys. Wie hätten sie alle es sonst fertig gebracht, den Boden zu solcher Fruchtbarkeit zu gestalten, solch Ernten zu erzielen, es zu Erbhöfen zu bringen, die – ohne eine Regierungsmaßnahme- bis heute sich erhalten haben. Trotz allen Stürmen der Zeit hat der Geringer Bauer in echt konservativer Art standgehalten, hat festgehalten an Sitten und Bräuchen bis zu Kriegsbeginn. Erst der Neuerungswut der Nachkriegszeit war es möglich, hier eine Bresche zu schlagen.

„Was du ererbst von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“, galt meinen Ahnen als Leitspruch ihres Handelns. Arbeiten, „Schaffe“ nennt es der Geringer, Haushalten, um zu vermehren – „offstäche“ – war die Devise. Wenn ich später mein Leben mitten in diesem „Schaffe“ schildere, wird man sich ein Bild vom ewigen Wirken in diesem Sinne machen können.

Daß der Geringer Bauer ein genügsamer Mensch ist, der außer dem „nötigen Esse und Trinke“ nichts kennt, was unter dem Begriff Vergnügen fällt, kann man hiernach schon ahnen.

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„Mir hann noch en Nachkömmling gekricht“, so meldete mein Vater, ein Mann, der es mit dem Leben ernst nahm, aber doch mit einem köstlichen Humor begabt war, seinen Verwandten und Freunden mit Stolz am  6.  M a i 1884.

Es war ein Dienstag, ein Tag mitten in der Arbeit. Vater war im Hauptberuf Landwirt, im Nebenberuf Schmied, - oder auch umgekehrt.

Da gab es auf dem Felde reichlich zu tun, und auch der Kamin der Schmiede qualmte dauernd, weil die ganze Bauernschaft – Vater Kundschaft umfasste das ganze Dorf mit rund 100 Pferden – hier und dort zu reparieren hatte, war es ein Pflug, ein Wagen oder ein sonstiges Ackergerät, oder hatte ein Pferd eine neue Beschuhung vonnöten.

Ein Schmiedegeselle, meines Wissens nach der Hunsrücker Jakob, half aus. Ein guter Mensch, der überall einzugreifen wusste, wo Hilfe nottat. Und hilfsbedürftig waren Vater und Mutter wirklich. Ich war der zehnte Sprössling – innerhalb von 18 Jahren. So war denn bei meiner Ankunft seine Vorsorge am Platze.

Der Jakob sammelte als verständiger Hausgenosse mit Rücksicht auf die „kranke“ Mutter meine Geschwister, damals noch drei an der Zahl, um sich und aß mit ihnen das auf einer Kiste aufgetischte Abendbrot, um sie alle dann schleunigst ins Bett zu befördern.

Von dieser Seele weiß ich mehr noch zu erzählen. Wir wurden gute Freunde, und doch sollte es einmal ganz anders kommen.

Bei meiner Taufe am andern Tage erhielt ich den Namen „Josef“, denselben, den mein ältester Bruder getragen hatte, der im Alter von 13 Jahren meinen Eltern entrissen wurde. Auf ihn, einen gut veranlagten Jungen, hatten sie große Hoffnungen gesetzt und eine frühzeitige Stütze erwartet. Ich kann den Schmerz meiner Eltern verstehen und auch die Freude und Befriedigung, wieder einen Josef zu haben.

Warum ich Josef getauft wurde, hatte auch einen noch andern Grund. Mein Pate, der Onkel Josef aus Pillig, ist auch der Pate des verstorbenen Bruders gewesen, und er wollte wieder ein Patenkind in unserer Familie haben.

Patin wurde meine Kousine Kätchen Meurer aus Polch, der Mutter-Schwesterkind.

 

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Vater und Mutter

 

Es gingen die ersten Wochen, Monate und Jahre erinnerungslos dahin.

Mir als dem jüngsten hatte man eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

„Mit 10 Monaten konnte der Junge schon laufen“, teilte Mutter allenthalben mit. Und wenn es wahr ist, daß Jugend verjüngt, so ist sicher im Hause meiner Eltern nach vielem Leid wieder Sonnenschein eingekehrt.

Neben der vielen Arbeit, die auf Vaters Schultern lag durch den Doppelberuf, hat die Sorge um die Familie mit ihrem Leben und Sterben ihn frühzeitig ergrauen lassen.

Auch Mutters Züge, die in ihren jungen Jahren sie offensichtlich begehrenswert machten, zeigten deutlich das Durchgekostete.

Ich kenne beide Eltern nur als ehrwürdige Gestalten, u. diese Erinnerung ist gut so, weil sie nachhaltigen Eindruck auf mich macht und alle menschlichen Schwächen, mit denen jeder mehr oder weniger behaftet ist, zurücktreten lässt. Vater und Mutter ist mir zeitlebens ein heiliger Begriff gewesen. Möge unsere heutige Jugend sich gründlich revidieren in ihrer Ansicht über die Eltern!

Eines Ackerers und Schmiedes Sohn –selbst der Großvater und Urgroßvater hatten diesen Doppelberuf – war mein Vater eine mittelkräftige Person. Die breiten Schultern, die sehnigen Arme und die schwieligen Hände verrieten den schaffenden Mann. Die etwas gebückte Haltung hatte er seiner Tätigkeit am Amboß zuzuschreiben. Leicht gebräunt war sein Gesicht durch die heißen Sonnenstrahlen bei der Arbeit auf dem Felde und die sengende Glut des Schmiedefeuers zu allen Zeiten des Jahres. Zu seinem Berufe passte der lange Bart, ohne den ich ihn mir nicht vorstellen kann.

So stand er m Feuer, an dem Amboß, am Schraubstock, vor des Pferdes Hufen, an dem zu bearbeitenden Ackergerät ohne Rock mit aufgekremten Hemdsärmeln, den Lederschurz vorgebunden. Eine leicht angeschwärzte Mütze bedeckte das schon lückenhaft behaarte Haupt.

„Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß, Soll das Werk den Meister loben.“

Und wahrlich, oft rann ihm der Schweiß von der Stirn, und er war ein Meister, ein Meister in seinem Handwerk und in seiner Ackerwirtschaft, die allerdings durch die Doppeltätigkeit mitunter leiden mußte.

Vaters Schmiedkunst war weit und breit bekannt. Er galt als tüchtiger „Hauzeug“-Macher. Aus allen Dörfern des Maifeldes, aus den Berggegenden der Eifel, die brauchbares Gestein liefern, von den waldreichen Höhen jenseits des Elzbaches kam man zum Meister „Schmitz Wellem (Wilhelm, der Schmied) gereist, um Äxte, Beile, Spalteisen, Köpfeisen, vor allen Dingen Schlagen = schwere Grubenhämmer, und a.m. zu bestellen. Selbst der Schäfer, der mit seiner Herde die dürftigen Gegenden der hohen Eifel abtastete, hatte von Vaters Ruf gehört und ließ sein Handwerkzug, die Schäferschüppe, anfertigen.

Die Erfolge im Handwerk hatte mein Vater nicht zuletzt seinem freundlichen Wesen zu verdanken. Wenn auch bei der Arbeit das hitzige Blut öfters überschoß, weil er genau wusste – man muß das Eisen schmieden, wenn es warm ist – so hatte er für jedermann ein freundliches Wort, das in den meisten Fällen mit humorvollen Bemerkungen durchwürzt war. Er verstand es, zuweilen in geradezu meisterhafter Form sarkastisch zu werden, namentlich dann, wenn ein etwas übermütiger Bauer auf den armen Schmied“ herablassend schauen wollte.

„Ich klopfe morgens einige Male auf den Amboß, da ihr noch schlafet, und schon habe ich mein Geld verdient“, pflegte er in solchen Fällen zu sagen.

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Unsere Mutter hatte ein weiches Gemüt gegenüber allen Fremden. Kein Bittsteller ging unerhört an unserem Hause vorüber. Zuweilen mutete unser Haus als Asyl für Obdachlose an. Kam da regelmäßig ein biederes Eifler Schneiderlein aus Reudelsterz, der „Reudelsterzer Kaul“ genannt, und versah sich mit Vorräten für gewisse Zeit.

Ein Herrgottsschitzer, ich weiß weder Namen noch Herkunft, logierte des öfteren mit Kind und Kegel in der Scheune oder im Schuppen und baute dort in Medizinfläschchen die Leidenswerkzeuge ein, was mich als Kind höchst interessierte.

Auch noch eine übrige, niemals ausbleibende Kundschaft zählte zu den ständigen Gästen.

„Unser Haus verbirgt sich niemand“, traf hier wirklich zu.

Unsere Mutter war von kräftiger Statur. So, wie ich sie gekannt, kam ihr Umfang an ihre Größe. Unsre Fruchtwaage reichte nicht, ihr Gewicht festzustellen. Aus ihren vollen gerundeten Gesichtszügen mit großen Augen strahlten weiches Gemüt und Herzensgüte. Ihr bereits gebleichtes Haar zeigte über der Stirn einen Ansatz zu Locken, die sie sorgfältig zu verbergen suchte. Durch die Körperfülle war ihr Gang etwas unbeholfen, was ich in der sogenannten Lausjungenzeit tüchtig ausnutzte. Wenn auch an Wochentagen und bei der Arbeit einfach gekleidet, so legte sie doch großen Wert auf „däftigen“ Sonntagsstaat, wodurch sie meinem Vater, der auf Kleidung nicht den allergrößten Wert legte, zuweilen den Etat ins Wanken brachte.

Von der Mutter haben wir Kinder ganz bestimmt die laute, mitunter aufbrausende Sprache geerbt, während das hitzige Blut von Vaters Erbe stammt. Ich sehe meine Mutter als die arbeitende, nie ermüdende Hausfrau, wie sie

 „Herrschet weiss im häuslichen Kreise

 und lehret die Mädchen und wehret den Knaben

 Und reget ohne Ende die Fleißigen Hände

 Und dreht um die schnurrende Spindel den faden

 Und sammelt in reichlich geglättetem Schrein

 Die schimmernde Wolle, den schneeichten Lein

Ja, damals wurde noch Flachs auf dem Maifelde angebaut, und ich erinnere mich noch recht gut meiner Mitarbeit bei diesem urdeutschen Geschäfte.

 

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Der jüngste von vier Geschwistern

 

Meine noch lebenden Geschwister waren mir im Alter weit vor.

Die älteste Schwester, die rund 16 Jahre vor mir das Licht der Welt erblickt hatte, hieß bei uns „Ammi“ oder auch „Amme“, eine Abkürzung für Anna Maria, war körperlich und geistig etwas zurück und für die Zukunft das Sorgenkind der Eltern. Ein eigenes Heim konnte sie nie gründen, das stand fest. Durch ein Hustenleiden von Jugend auf hatte sie einen gebückten Gang, und ihre Beschränktheit paarte sich mit einer allzu großen Bescheidenheit, so daß sie sich überall in den Hintergrund drängen ließ. Es entwickelte der Typ eines von aller Welt abgeschlossenen, nur arbeitenden Landmädchens, arbeitend nur, soweit es die Fähigkeiten zuließen. Mit Vorliebe machte sie sich in aller Stille auf ihre eigene Art zu schaffen; nicht selten war die Arbeit der aufgewandten Mühe nicht entsprechend; denn die Zweckmäßigkeitsfrage überlegte sie nicht. Und dennoch leistete sie der Mutter schon in jungen Jahren tüchtig Hilfe, brache es sogar soweit, mir den Junggesellenhaushalt eine Zeitlang zu führen. Ich staune aber heute noch über die Lieb und Geduld, die Vater und Mutter ihrem Sorgenkind zugewandt haben.

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Meine nächstältere Schwester, genannt „Gritt“ (Gretchen) nach Geringer Art, zählte 12 ½ Jahre mehr als ich, befand sich also bei meiner Geburt in dem Alter, in dem Mädchen sich ungemein auf ein „Kindchen“ in der Familie freuen.

Sie muß ein kräftiges, stolzes Kind gewesen sein; denn sonst hätte sie sich nicht zu solcher Blüte entfalten können, in der ich sie beim Erwachen des Bewusstseins vor mir fand. Es wurde aus ihr eine ländliche Jungfrau echter deutscher Art mit etwas städtischem Einschlag, was sie bei Beginn des 20. Lebensjahres durch den Drang zur Stadt verriet.

Das „Schaffe“ hatte sie gründlich gelernt. Hatte meine Mutter mich ihr zum „Verwahren“ anvertraut, solange ich des begleitenden Engels bedurfte, so wurde sie später regelrecht in den ländlichen Betrieb eingespannt. Ich sehe sie heute noch mit kräftigem Arm die schweren Korngarben anrecken im Hochbetrieb der Ernte. Sie griff zu in der Schmiede und selbstverständlich im Stalle.

Am liebsten erinnert sie sich an die Zeiten, die sie mit meiner Pflege verbrachte. Zog die auch zuweilen das Spiel mit ihresgleichen vor, so ging ihr doch „dat Kind“ oder der „Jung“ über alles. Es muß schon so gewesen sein, sonst hätte sie später über den Tod meiner Mutter hinaus, selbst als ich mich reif fühlte, mich nicht so „bemuttern“ können. Um uns beide schlang sich denn ein Band, das noch heute nicht zerrissen ist, mögen auch Familiensorgen bei ihr und mir äußerlich eine Lockerung vermuten lassen.

Gar oft trat diese innere Verbundenheit zutage. Wie manchesmal ist sie als schützender Engel vor mich getreten, wenn mir ein Übel von meinem einzigen Bruder Johann, in Gering mit dem Namen „Hannes“ bezeichnet, drohte.

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Dieser war 12 Jahre älter als ich und konnte sich gar nicht in meine Gedankenwelt hineindenken. Er zeichnete sich durch besonders kräftigen Körperwuchs aus, dem gewaltige Kräfte entsprachen, hatte das Geringer Bauernblut in hohem Grade gerbt (Man sagte, von Mutters Seite stamme es) konnte bis zur Siedehitze aufbrausen und verlangte viel von seinen Mitschaffenden.

Es muß ihm zugegeben werden, daß er eine harte Lebensschule hatte. Kaum erwachsen, trat er in den Doppelberuf: Landwirt-Schmied. Die viele und anstrengende Arbeit machte ihn rücksichtslos gegen andere, wenn es hieß arbeiten, schaffe.

Hier war wohl die Gutheit unserer Mutter ein Faktor, der den korrekten Erziehungswillen unseres Vaters etwas durchkreuzte. Das energische, aber gutgemeinte Wort des Vaters wurde durch mütterliche Güte oft wirkungslos. Es entwickelte sich ein Charakter mit herrischem Einschlag, der übrigens das gute Gemüt nicht vermissen ließ. Wem hätte in der Not die Hilfe versagen können? Und wenn Bruder Johann im Laufe der Zeit von seinen nächsten Angehörigen immer weniger verstanden wurde, so liegt das in dem „Sich nicht verstehen wollen“ begründet. Sein strebsamer Geist gab bestimmt Aussicht auf groiße Erfolge. Er wurde, wie unser Vater, ein Meister der Schmiedekunst. Bedauerlich, daß das Erbe nicht auf seinen Sohn übergegangen ist!

 

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Die erste Umschau in der Welt

 

So wuchs ich denn in einer Familie von sechs Personen auf. Ich begann, meinen Erfahrungskreis, der sich vorher hauptsächlich auf Mutter und Schwester „Gritt“ beschränkt hatte, zu erweitern.

Die Schmiede wirkte ihre Anziehungskraft aus. Da gab es allerlei anzufassen: Hämmer, Zangen, Nägel, Schrauben, Hufeisen, Räder, Reifen und hundert andere Dinge. Hier brannte ein lustiges Feuer, hier sprühten Funken, hier gabs Geräusche aller Art, hierhin kamen Menschen, sogar fremde, feingekleidete, die ich noch nie gesehen, hierhin fanden täglich andere Pferde als unsere, ja Ochsen und Kühe ihren Weg; hier herrschte Leben.

Mein Vater hatte für seinen „Jüngsten“ ein besonderes sicheres Plätzchen gefunden, wo sein „Augapfel“ vor den Gefahren der Schmiede geschützt war: Auf der Esse stand ein Kistchen; das war mein Sitz, wenn es heiß herging. Von dort übersah ich alles, dort wurde es mir im Winter nicht kalt.

Von diesem Platze au sollte ich unserm „Jakob“ in Mißstimmigkeit geraten.

„Die Schlag (ein schwerer Grubenhammer) muß heute fertig werden; ich habe einen dringenden Gang zu machen“, lautete eines Morgens Vaters Anweisung an Jakob.

„Wird gemacht“, war die prompte Antwort des treuen Gesellen.

Also gings los, ich durfte nicht fehlen. Ob ich unberufen mir der Aufsichtsbefugnis bewusst war? Ein kräftiger Bauernjunge half bei der Arbeit als Zuschläger.

Der Blasebalg gab sein Bestes, mit Kohlen wurde nicht gespart. Dicker Qualm füllte die Werkstatt. Hell schlugen die Flammen jetzt durch, die Schweißhitze war da.

Jakob hatte inzwischen die Hemdsärmel hochgekrempt, der Stahl für die beiden Hammerköpfe lag zurecht. Es ging ums Verschweißen.

Mit eigens hergerichteten Klauenzangen brachte Jakob den Eisenklotz auf den Amboß. Die Aushilfe schlug zu. Bums! Da lag der Klotz auf der Erde, die Hitze war vorbei, von neuem wurde sie erzeugt.

„Heute muß sie fertig werden“, klang es Jakob ins Ohr.

Der Schweiß rann ihm von der Stirn, schon wieder lag der ungeschlachte Hammer auf dem Boden, schon wieder vergebliche Mühe.

Verständnislos sah Jakob sich das Ding an.

Mir, dem kleinen Knirps von vier Jahren, war die Sache ebenso verständnislos, und mit dem Ernst eines Altmeisters entschlüpften mir die Worte: „Wär mei Vadder hei!“

Mehr sage ich nicht und hörte auch nichts, nur Jakobs Kopf rötete sich bis zur Gluthitze. War’s Schamröte? Oder war’s Ärger?

Ich konnte das damals nicht begreifen. Heute weiß ichs.

Aber Jakobs Liebling war ich bestimmt nicht mehr

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Die Folgen dieser Tat waren für mich sicher schlimmer als das Ereignis mit dem ersten Anzug, d.h. mit dem Anzug, der nur aus Rock und Hose Bestand. Damals kannte ich noch nicht Schillers Lied von der Glocke mit dem markanten Vers:

 „Doch mit des Geschickes Mächten

 Ist kein ewger Bund zu flechten,

 Und das Unglück schreitet Schnell“…...

Es war geschehen, der Geruch verriet es und Mutter hatte die Folgen abzutragen. Schade um die neue Hose!

In des Nachbars Hof, bei Schreinersch Hennrich ist es gewesen.

Dort hat sich manches Schlimmes zugetragen. Hier nur ein Fall. Jungen von 4 Jahren sind auch schon kriegerisch eingestellt. Und mein Freund Hennrich soll mehr dazu geneigt gewesen sein und mehr Kriegslist besessen haben als ich. Eine Narbe an meiner linken Schläfe zeugt von dem geschleuderten spitzen Stein meines zeitweiligen Gegners.

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Da denke ich etwas weiter zurück. Ich mag vielleicht 2 Jahre gewesen sein. Viel später war’s sicher nicht; denn der große Schmerz konnte bei mir noch durch die zarte Muttermilch gestillt werden. Das kam so:

Sogenannte „Winkel“ waren für uns Kinder ein Lieblingsplätzchen. Gab es dort allerlei interessante Sachen, die einst Erwachsenen zu den verschiedensten Lebenszwecken gedient und hier ihre letzte, d.h. in diesem Falle vorletzte, Ruhe gefunden hatten. Wir konnten immer noch allerlei damit anfangen.

So entdeckte ich eine abgebrochene Weinflasche, rannte freudig damit zu meinen Gespielen, schon lag ich auf der Nase, und blutüberströmt hob man mich auf. Die Scherbe hatte die Augengegend getroffen.

Heulend nahm mich die Mutter in Empfang, und nach einigem Schluchzen war der Schmerz vorüber; Ich lag an Mutters Brust.

Aber noch entsinne ich mich selbst sehr deutlich, daß der herbeigerufene Arzt mehr sich um meinen Vater kümmern mußte als um mich. Vater fiel in Ohnmacht. Mir war weiter nichts zugestoßen. Nur ein kleiner Riß in der haut zeigte sich.

So erzählte mirs meine „mütterliche“ Schwester, die natürlich lauter geschrieen hatte als ich.

Schrecken und Schmerzen hatte ich also schon in den ersten Lebensjahren meinen Eltern verursacht. Noch andere Narben geben Zeugnis davon. Offenbar war ich ein Junge, der überall dabei sein mußte, und so habe ich es auch weiter gehalten. Im Elternhause hieß es bald: Der Krotz ist überall im Wege.

Geschadet hat es mir auf keinen Fall, es entwickelte sich in mir der Sinn für alles, was lebt und wirkt.

 

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ABC-Schütze

 

Bestimmt war es für mich ein Ereignis, als ich zum erstenmale den Weg in die Schule mache.

So eine Dorfschule ist ein Reich für sich. Schon als ABC-Schütze fühlte ich dies, heute verstehe ichs voll und ganz. Zwischen dem Elternhaus und dem Schulsaal bestand ein großer Unterschied. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, daß Vater und Mutter uns Respektpersonen waren; der Lehrer jedoch galt als die erhabenste Person des Dorfes. Kaum konnte ich mir vorstellen, daß er so gut Mensch war wie wir und dieselben menschlichen Bedürfnisse hatte. Ein gewisser Heiligenschein, der sonst nur dem Pfarrer zukommt – einen solchen hatten wir nicht im Orte -, umgab ihn.

Unser zukünftiger Lehrer, der in der ganzen Schulzeit mein einziger geblieben ist, trug den Stempel eines gestrengen Herrn, was uns durch die Eltern, noch mehr durch andere Erwachsene, gar zu oft angedeutet wurde.

Und trotzdem, ich ging gern zum erstenmal in die Schule. Ich suchte nach Neuem, mußte auch dort Bescheid wissen.

Zwar kannte ich den Lehrer schon etwas. Er hatte mit Vater öfters zu tun, sei es, daß der Ofen in der Schule nicht brennen wollte oder ein Schlüssel abhanden gekommen war, was durch böse Bubenhände zerstört worden.

In den meisten Fällen schlich ich mich verstohlen weg, wenn er kam; aber ich kannte ihn.

Er war, wie ich schon sagte, ein Hunsrücker, kam von Dommershausen, gegenüber Hatzenport, zwei Wegestunden von dort, auf der Höhe gelegen, entstammte einer Bauernfamilie und trug den merkwürdigen Namen „Pies“, für uns deshalb merkwürdig, weil wir so auch den „Knochenflicker“ nannten. Beide Begriffe: Knochenflicker gleich Pies und Lehrer ebenfalls gleich Pies konnte ich damals nicht auseinander halten.

Mancher Lehrer der früheren Zeit hätte vielleicht besser den Knochenflicker gewählt.

Der Pies, wie er schlechthin im Dorfe hieß, war klein von Gestalt und hatte als untrügliches Kennzeichen ein kürzeres Bein, das einen hinkenden Gang verursachte, ein Kennzeichen, das für uns Jungen, wie ich später feststellte, sich äußerst günstig auswirkte. Einmal verriet er durch den Tritt nach jambischem Versmaß sein Herannahen, und zweitens war sein Vorwärtskommen dadurch sehr behindert, was nicht minder auch seiner bedeutenden körperlichen Fülle zuzuschreiben war. Ich glaube bestimmt, er zählte in dieser Beziehung zu den höchsten Steuerzahlern.

Freundlich war er gegen jedermann – Hunsrücker reden gern. Auch schien er ein besonderes Interesse fürs Handwerk zu haben; denn mit meinem Vater unterhielt er sich oft dieses und jenes und auch schon über mich.

Was immer gesprochen wurde, weiß ich nicht, nur Sonntags war ich ab und zu Zeuge der Unterredung. Das kam so.

Es war eine alte Sitte der Geringer Bauern, Sonntags mit dem Wagen in die Kirche zu fahren. Wir waren Filialort der Pfarre Kehrig (Heute ist es anders, Gering hat nämlich jetzt einen Pfarrer, wenn auch nur zur Hälfte – die andere Hälfte gehört den Kolligern).

Da wurde der kleine „Einspänner“ benutzt, die halbe Wegstunde in Bequemlichkeit zurückzulegen. An den Fußgängern ging’s rasch vorbei; denn man fuhr gewöhnlich etwas später ab und ließ mit Vorliebe den Gaul leicht traben.

So holten wir des öftern den Lehrer ein, der, in Schweiß gebadet, unbeholfen sich zu seinem Herrgott begab, und er wurde selbstverständlich unser Fahrgast. Nicht wenig stolz waren wir ob dieser Tat!

Nachdem nun Wetter und Flurbestand gebührend gewürdigt, auch des Pferdes Eigenschaften gelobt waren, lenkte mein Vater auf mich das Thema.

„Watt macht der Junge in der Schule?“ lautete die Übergangsfrage, und leicht röteten sich die Wangen der beiden Beteiligten.

War es für meinen Lehrer eine Gewissensfrage? – Oder entsprang die Röte der Anstrengung des Marsches?

Bei mir war es der Respekt vor dem Vater, dem ich as bestimmten Gründen nie eine Klage über den Lehrer vorgetragen hatte, obschon es bei uns beiden auch schon öfters Meinungsverschiedenheiten gab.

„Wenn er nur nichts verrät“, dachte ich mit klopfendem Herzen; aber dem Grundsatze: Man soll nicht aus der Schule plaudern, schien auch Papa Pies zu huldigen.

„O, der ist brav und lernt ganz gut“, war die erlösende Antwort.

Und schon bog der Wagen um die letzte Straßenkrümmung, von wo aus es im rasselnden Trab ins Kirchdorf hineinging, als das Glockengeläute eine weitere Unterhaltung abschnitt.

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Die erste Unterrichtsstunde ist vorüber.

Schüchtern waren wir alle, sechs an der Zahl, mit der Tafel unterm Arm in den Schulsaal getreten.

D saßen denn die älteren Jungen und Mädchen, es waren ihrer 40 zusammen. Wir wurden staunend betrachtet. So hatten die uns noch nicht gesehen. Erst auf des Lehrers Geheiß begann die Arbeit.

Nun nahmen wir Platz…stumm…schwerfällig…teilweise über die Bänke stolpernd. Der Lehrer Pies fragte nach Namen, auch die von Vater, Mutter, Bruder, Schwester.

Unbeholfen kamen die Antworten. Wir verstanden den Lehrer schlecht. Aus Bruder hörte ich Mutter und antwortete zum Gaudium aller: „Mein Bruder heißt Lies!“ So hieß nämlich meine Mutter.

Und so ähnlich daneben gingen die Angaben von Hoffmännches Antun, von Schreinech Hennrich, von Baumanns Johann, von Palejokems Johann und von Lauxer Gritt.

Der Lehrer hatte genug von uns. Er schickte uns heim.

Ganz vorsichtig stampften wir mit unsern schweren nagelbeschlagenen Schuhen treppabwärts bis zur großen Schultür, und dann aber, mit Freudensprüngen ging es dem „Ham“ zu.

Der erste Tag war erlebt. So konnte es bleiben, dachten wir wohl alle.

Doch so blieb es nicht, weder bei uns noch bei dem Lehrer. Der Lehrer Pies zog allmählich die Leine an, und wir wurden freier, begannen mitunter unsere Freudensprünge schon auf der Schultreppe und so manches mehr. Es soll gar nicht so lange gedauert haben, da hörten wir das Schulglöckchen weniger gern.

Ja, mit dem Schulglöckchen hatte es seine Bewandtnis. Es war nicht etwa eine Glocke an dem Schulhause, sondern sie hing in der Kapelle.

Unsere Kapelle, von der ich später noch mehr zu erzählen habe, hatte zwei Glocken, eine große und eine kleine. Mit der großen läutete der Vorsteher seine „Geman“ zusammen, sie rief bei Feuersgefahr „Alle“ zur Hilfe auch gab sie den Toten das letzte Geleit. Aber die Kleine war das Zeichen des Schulbeginns. Die großen Jungen besorgten das Läuten nach des Lehrers Uhr, der einzigen Uhr im Dorfe, die richtig zeigte.

Allmählich kam das Lesen an die reihe.

Der Lehrer war ein Pädagoge nach Pestalozzis Art. Ans Bekannte schloß er an. Das Osterei hatten wir noch im Gedächtnis, und er brachte eines Morgens ein richtiges Osterei mit.

Wir nannten Name und Farbe und Herkunft und Zweck, wir machten fortwährend ei-ei-ei-ei-, und nun kam das Schönste: Das „Ei“ wurde gegessen.

Hätten wir doch schon alle Wörter essen können, die uns so spanisch vorkamen und gar nicht zu unserm Geringer Platt gehörten! Mit einem krummen Messer, ich glaube, es war ein Okuliermesser, öffnete der Lehrer das Ei, und da bekam jeder einen Geschmack von dem Weißen und von dem Gelben. Ja, so ein Ei hatten wir noch nie gegessen.

Die weiteren Leseübungen sind meinem Gedächtnis entschwunden. Einen nachhaltigen „Eindruck“ hinterließ das Erlernen des Einmaleins. Da wollte es wohl nicht so recht klappen; eine eine ziemlich lange Haselnußrute half den in einer Reihe Stehenden öfters kräftig nach. Mehr weiß ich davon nicht.

Nur eines haben wir alle behalten: Das Einmaleins.

 

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Jungenstreiche

 

Eintönigkeit darf in einer Schule nicht vorkommen. Für Abwechslung sorgten wir selbst.

Ein Freund schrieb mir einmal in ein „Poesiealbum“, das wir uns im Seminar in echt mädchenhafter Weis anlegten:

 „Auch dumme Streiche wollen gemacht sein,

 Auch krumme Gedanken wollen gedacht sein.

 So denkt ein gescheiter Mann,

 Daß er einst über sich lachen kann.“

Die alte Kapelle hat es uns angetan. Die war so interessant, daß sie verdient hätte, heute noch zu stehen.

Sie lag im untern Teile des Dorfes auf einem erhöhten Platze, der zugleich als Friedhof diente. Beim Betreten des Kirchleins stieg man drei Treppenstufen abwärts, ehe man das 150 Personen fassende Innere erreichte. Das Dach, von dem ein recht baufälliger Turm sich nur wenig abhob, senkte sich bis Manneshöhe zur Erde. Einige kleine Luken im Dache sorgten für schwache Lüftung über der Decke. Im Innern führte eine Treppe gegenüber der Eingangstür nach oben, bei deren Benutzung man an den Glockenseilen vorbeistreichen mußte. Im Chor waren die Bänke der Schulkinder, darunter auch ein Platz für den Lehrer.

Eine Heiligenfigur auf dem Altare erregte besonders meine Aufmerksamkeit. Es war die des heiligen Nikolaus, dargestellt mit zwei Kindern in einer Bütte zu seinen Füßen.

Diesen Heiligen betrachtete ich während des ganzen Jahres. Warum er die Kinder da vor sich stehen hatte, wusste keiner. Gar nicht in den Sinn wollte mir kommen, wie der Heilige Mann am 6. Dezember zu den Kindern in den Häusern gelangen konnte, zumal er beim Rosenkranzgebet am selben Abend noch fest auf seinem Postament stand.

„O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.“

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Also diese Kapelle hatte es uns einst angetan.

Kaisersgeburtstag! Das einzige Fest in unserer Schule innerhalb eines Jahres. Und darauf freuten wir uns um so mehr. Zwei Dinge waren es, die in den letzten Schuljahren diesen Tag so köstlich gestalteten: Einmal das Einläuten des Festes in unserer Kapelle am Vortage und dann das Abholen der „Wecke“ beim Bäcker in Kehrig (Gering selbst besaß keinen Bäcker).

Das Festläuten hatte deswegen seinen besonderen, weil wir eine Stunde lang läuten durften und …. ohne Aufsicht, d.h. der Vernünftigste von uns sollte aufpassen, hatte der Lehrer gesagt. Da ließen wir und mit Vorliebe durch das Glockenseil „fliegen“, wenn die Glocken auf Touren waren; bis an die Decke ging’s.

Und so kamen wir auf den Gedanken, auch einmal das Dachgeschoß einer Besichtigung zu unterziehen.

Das Läuten ging dem Ende zu. Der Pas und der Pitter, der Hennrech und der Johann ziehen mit ihrer letzten Kraft an der Glocken Stränge, daß der alte Turm bedenklich wackelte. Indessen betrachteten der Nikla und der Mattes, der Antun und der Jusepp (ich!) das Überirdische. Wir gewahrten da etwas ganz Eigenartiges: Da waren an einem Gestell ganz vorn über dem Chor Rollen und ein Drahtseil.

Was mochte es sein? Und siehe da, es bewegte sich, wunderbar ging’s herauf und herunter.

Da plötzlich verstummte das Glockengeläut, so plötzlich und so abgeschnitten, als ob eine höhere Gewalt ihre Hand im Spiele gehabt hätte. Und schon hörten wir die uns nur zu gut bekannte, erzürnte Stimme unsers Lehrers. Wir hörten noch mehr: Schallende Ohrfeigen wurden ausgeteilt an Nikla und Antun, die, ihrem guten Instinkt folgend, schleunigst von oben nach unten geschossen waren. Mich ereilte dasselbe Schicksal, nur den Mattes hatte es nicht gepackt.

Wo war er hingekommen? Hatte ihn sein Engel auf Flügeln davongetragen? Er war weg, man wusste nicht, wie und wohin.

Was war denn nun geschehen?

War das ein Kriminalverbrechen, daß wir „Vier“ uns die bestaubten Dachräume einmal angesehen hatten? Dafür hätte unser Lehrer doch etwas mehr Verständnis haben müssen. Altertumsforscher wollten wir gerade nicht werden; aber immerhin hatten wir Interesse an der Antike gezeigt.

Etwas anderes mußte des Lehrers schnaubende Wut entfesselt haben.

Pies war nicht bloß ehrbarer Schulmeister, er war auch treuer Wächter und Schützer der Kapelle mit ihrem gesamten Inventarium. Er versah regelmäßig die „Ewige Lampe“ mit Öl. Und weil er nicht gern einen Gang zuviel machte, verband er an diesem Abend das Notwendige mit dem Zweckmäßigen; ich meine damit das Kontrollieren seiner Jungen.

So nahm er denn die Ölkanne aus dem Wandschrank und trat an die ewige Lampe heran, just in dem Augenblick, da die bösen Buben da oben Betrachtungen und Übungen anstellten.

Und wenn schon Pies immer seine ganze Leibesgröße ausrecken mußte, um an die Lampe zu kommen, so reichte diesmal sein Arm, an dem das Manschettenröllchen bedenklich aus dem Ärmel gerutscht war, nicht hin. Die ewige Lampe flieht. und flieht bis an die Decke.

Wie sie wieder heruntergekommen ist, konnten wir nicht feststellen, dafür hatten wir keine Zeit.

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Wo mochte nur Mattes hingekommen sein?

Pies war weg nach „Hummes“ zum Abendessen.

Die zersprengte Schar hatte sich inzwischen wieder gesammelt, um Kriegsrat bezügl. des „Vermissten“ zu halten.

Wir schlichen zum Kapellchen, wir horchten, ob nicht sein Geist sich irgendwo hören ließe.

Lange Zeit vergebens.

Da plötzlich reckten sich an der Dachluke zwei Beine heraus, ins Ungewisse tastend: es sind Mattes schwere Latschen.

Neuer Schrecken fuhr uns in die Glieder. Wollte er sich vom Dache auf die Erde rutschen lassen, um mit Knochenbrüchen unten anzukommen? Das hätte noch schlimmere Folgen nach sich gezogen. So konnten wir die Angelegenheit wenigstens den Vätern verheimlichen.

Wir warnten ihn, den Verzweifelnden, dem das dumpfe und muffige Dachgeschoß gar zu unheimlich geworden war.

Antun, der kluge Stratege, eilte zum Kirchläuter, der gemäß alter Überlieferung nach dem Datum seiner Verheiratung zum Angelusläuten dieses Jahr an der Reihe war, und er erhielt wegen der Dringlichkeit der Sache auch den erbetenen Kirchenschlüssel, und eins, zwei, drei: Mattes war gerettet.

Er weilte mitten unter dem Klübchen, und nun geht ein Fragen und Diskutieren los, bei dem wir teils über Mattes Schlauheit, teils über unsere Dummheit staunten.

„Bo has dau nor jestoche?“ war unsere Hauptfrage.

Und er erzählte, während wir Mund und Nase sperrangelweit aufhielten:

„Ech hannmech henneranem Peiler verstoch on hann jemant, der Pies jeng ham un leß de dier off. Ober er schloß se derekt fasst zu, on do stand ech on wor ze bang mech ze melle. Et wur deister un ech woß och, datt mei Vadder no mir seche dät, wenn ech nett daham wor, un dann hätt ett jehiereg Kläppjever. ech wär secher herunner jerutscht, wenn kaner kummer wär.“

Das Rätsel um Mattes war gelöst. Die ewige Lampe leuchtet weiter.

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In Gering gab es in meiner Jugendzeit noch fromme Beter. Während der Advents- und Fastenzeit wurde in der Kapelle der Rosenkranz gebetet. Unsere Mutter hielt strenge an diesem Brauch.

Daß wir Jungen uns nicht immer für diese löbliche Sitte begeisterten, kann der verstehen, der weiß, wie gern man zu Winterszeit sich auf dem Eise herumtreibt.

Das Rosenkranzgebet begann beim Eintreten der Dunkelheit. Nach strenger Vorschrift des Lehrers mußte dann alles von der Straße sein und in der Kapelle zum Rosenkranzbeten sich eingefunden haben.

Wir fanden doch öfters noch eine Stelle, wo wir uns tummelten ohne Kenntnis der Eltern und des Lehrers.

 „Doch es ist nichts so fein gesponnen,

 Es kommt ans Licht der Sonnen.“

Das heißt, meine Mutter hatte Lunte gerochen, und wenn sie selbst nicht mit zur Kirche gehen konnte, so ging’s nicht anders trotz vieler Ausreden: Ich mußte mit ihr zu Hause den Rosenkranz beten.

Als Kind kann man nicht immer dem Gebet einen Geschmack abgewinnen. Doch ich ersann auch hier ein Mittel, selbst das Rosenkranzbeten auf meine Art interessant zu gestalten.

Der Rosenkranz wurde von mir zunächst eingeläutet. Das ging so:

Neben dem Ofen in der Wohnstube hingen an einem Hakenblech die nötigen Ofengeräte, wie Stocheisen, Feuerzange – Klofft genannt – und außerdem ein Anzieher für die Schuhe, von Vater selbst aus derben Eisen gefestigt.

Diese Dinge sollten mein Glockengeläute werden. Das Stocheisen war der Klöppel, der Anzieher die große Glocke und noch irgend ein klanggebender Gegenstand die kleine. So läutete ich bald mit der Großen, bald mit der Kleinen, bald mit beiden, wie es unser häuslicher Gottesdienst bedingte. Ich hatte wirklich Anlage zum Küster.

Die gute Mutter hatte nicht lange Verständnis für mein Küsterspiel, noch weniger Vater, will eine halbkreisförmige Rille in der schön geblümten Zimmerwand ihm plötzlich auffiel. Der Anzieher, meine große Glocke, erhielt einen andern Platz, und die Kleine fand den Weg zum Schutthaufen.

„Die Glocken sind weggeflogen“, sagte ich scherzhaft u. Mutter mußte lachen.

Mittlerweile war auch Weinachten gekommen, und das Rosenkranzgebet hörte auf.

Doch als die Fastenzeit einsetzte, waren die Glocken wiedergekommen, und Mutter mußte nochmals lachen, und ich läutete wieder ein zum Rosenkranze.

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„Der Junge ist brav“, hatte der Lehrer noch am letzten Sonntag auf dem Kirchwege Vater gesagt, und weder der Lehrer noch ich ahnten, daß die kommende Woche ein Unwetter in der Schule niedergehen sollte.

Es war zur Sommerzeit, die Zeit der Kirmesse auf dem Maifelde. Die Polcher, die gleich nach Ostern den Anfang machte, war schon längst vergessen. Die Mertlocher hatte die Pfingsttage ausgefüllt. Die Einiger „Kauzeköpp“, wie die Bauern dort genannt wurden, benutzten die schönen Tage des Juli zu ihrem Feste, und dann war Naunheim an der Reihe.

Dorthin reiste jedes Jahr der Schneiders Mattes mit seiner Familie, ein Mann, der uns Burschen erheiterte durch seinen reizenden Zorn und sein außerordentliches Aufbrausen bei jeder Kleinigkeit

Das junge Volk suchte Sonntags die Kirmesfreude, um Montags wieder der Arbeit nachgehen zu können, während die Alten sich an diesem Tage in Ruh den Kirmesgenüssen ergaben. So wards gehalten seit je.

Der Naunheimer Kirmessonntag war wieder gekommen, und unsere Beziehungen zu Schneiders Mattes sollten sich in besonderer Form zeigen. Wie gesagt, wir kannten ihn.

Da stand um 10 Uhr, als die Schule eben aus war, sein „Einspänner“, an dem er des deftigeren Aussehens halber heute die Deichsel für zwei Pferde eingesteckt hatte, vor dem Hause fix und fertig zum Anspannen. Die zwei in Lederriemen federnden Holzsitze auf dem nagelneu grün gestrichenen Wagen waren bereits mit ebenso neuen Wolldecken belegt, die Kreuzleine lag zum Anschirren bereit, die Sonntagspeitsche, vor kurzem beim Jud „Heli“ in Mayen gekauft, steckte an der rechten Seite des Vordersitzes, alles bereit zur Festerfahrt.

Mattes saß wohl noch drinnen mit seiner Frau, dem Traud, beim Frühstück. Vielleicht überschlug er das heute aus gewissen Gründen und suchte an seinem Kragenknöpfchen oder an einem andern sonntäglichen Artikel. Kurzum, die Abfahrt verzögerte sich; denn wir Jungen bekamen Zeit, den Wagen einer kleinen Musterung zu unterziehen.

Lange hat das nicht gedauert. Flugs waren zwei von uns als Lenker an der Deichsel, ein Kutscher saß oben, und das Gros hatte die Hände an irgendeinem Teile des Wagens. Dort gings mit im, dorfabwärts in heller Fahrt. So schnell war Mattes trotz seines Kollerns mit den Pferden noch nie durchs Dorf gefahren.

Erst auf der Wiese „Im Brühl“, am untern Dorfende, gabs ein Halten.

Wir hatten mal wieder etwas Neues geleistet, verdrückten uns nach Hause und lachen aus vollem Hause über den gelungenen Streich; denn wir malten uns aus, wie bald Mattes polternd auf der Straße steht und mit weit aufgerissenen Augen in ein Nichts schaut. Seine hagere Gestalt, die sonst mehr einer Sichel gleicht, richtet sich hoch auf, und mit geballten Fäusten bedroht er den Unbekannten, der ihm den Wagen entführt hat.

Schade um den Sonntagsstaat, der ob dieser Aufregung gar zu leicht hätte Schiffbruch leiden können!

Die Nachbarschaft wurde aufmerksam. O Schreck!

Hier wohnte des Lehrers zukünftige Schwiegermutter, die sich schon vollberechtigt hielt, in vielen Dingen des Schwiegersohns Stelle zu vertreten, besonders wenn es sich um Angelegenheiten handelte, die uns betrafen. Sie hatte an ihrem Eckfensterchen gesessen, Strümpfe strickend, und bei jeder Masche straßenaufwärts und straßenabwärts geschaut.

Der Lehrer stapfte – diesmal etwas eilig – von der zwei Häuser entfernt liegenden Schule zu seiner Braut, wird von der Schwiegermutter mit Entrüstung empfangen.

Schon war das Verhängnis da und

 „Indes wir hoffen,

 Hat uns Unheil schon betroffen.“

Punkt ein Uhr mittags setzte das Strafgericht ein. Die Haupttäter wurden entlarvt, und dabei war auch ich.

Wiederum hatte der Lehrer kein Verständnis für unsere Auffassung: Eine drakonische Strafe wird verhängt. Acht Tage lang bekamen wir – ich weiß nicht mehr, wie viel von uns – unsere Tracht Prügel.

Wir kiffen die Zähne zusammen bei der Prozedur, und doch, es war schön gewesen, der gelungene Streich!

Sonst stände er heute nicht mehr so lebendig in meinem Gedächtnis.

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Ob Mattes nach Hereinholen seines Wagens noch zur Kirmes gefahren ist? Oder hat ihm der Ärger den Geschmack daran verdorben?

 

- 7 -

Neue Antragerei

 

O, dieses Antragen durch alte „Basen“ (Tanten)!

Für uns Jungen war so etwas einfach fürchterlich. Das Schlimmste, daß der sonst gute Lehrer auf dieses Weibergetratsch hörte!

Wenn immer alles gestimmt hätte! Und was für Menschen die Anträger waren! In der Hauptsache besorgten dies zwei alte Jungfern, denen der Herrgott keinen Mann anvertraut hatte, den sie hätten quälen können. Und da mußten wir mit unsern harmlosen „Jungenstreichen“ daran glauben.

Eine ganz gewaltige Abscheu gegen solche Menschen hat sich in mir ausgeprägt, so sehr, daß ich als Lehrer nie und nimmer mich auf solchen Quatsch einlasse.

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„Scheroks Käthrein“ und die „Osebaas“ hießen die feindlichen Furien, die in einem Nebengebäude der Wirtschaft „Hummes“ wohnten. Im „Stall“, so wurde das Asyl für die beiden genannt, war die Auskunftei für ganz Gering und Umgebung.

Die „unberührten“ Jungfrauen steckten ihre Nasen in alles. Sie waren die lebendige Zeitung der Gäste aus nah u. fern. Den Lehrer, dem sie eine der beiden Hummestöchter anverloben wollten, wie sich dort um jedwede Bekanntschaft im Dorfe reichlich gekümmert wurde, hielten sie stets auf dem Laufenden über uns. Das hatte seine guten Gründe, er sollte, wie gesagt, anbeißen.

So hörte ich zu Hause oft sprechen, ohne es zu verstehen.

Was die beiden, die Käthrein und Osebaas, die äußerlich schon als Tratschen durch den breiten Mund gekennzeichnet waren, dem Lehrer alles meldeten, hätte bestimmt den großen „Brockhaus“ ersetzt. Glücklicherweise ging der Lehrer auf alles nicht ein; aber leider doch auf manches.

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Nach Frühobst lechzte unser Gaumen. Wir konnten kaum abwarten, bis die Früchte sich gerötet. Das erste Rot ließ die Kirschen oder die Johannisbeeren bereits mundgerecht erschienen. Mit Kennerblick hielten wir Umschau in allen uns wohlbekannten Gärten.

Die „Hummes“ hatten immer etwas Besonderes an sich. Sie rechneten sich gern zu den gebildeten Leuten, wahrscheinlich, weil ab und zu ein feingekleideter Herr dort einkehrte. Als Wirtsleute trug er einen Kragen und sie eine besondere Schürze. Sie hatten ganz entschieden auch das feinste Obst. Wenigstens dünkte uns Jungen so.

Eins stand fest: Hummes Johannisbeeren und auch die Stachelbeeren hatten den Reifegrad annähernd erreicht, wenn die unsern sich kaum geformt.

Wir wussten dies. Wir wussten aber auch, daß es nicht ungefährlich war, der leckeren Dinger habhaft zu werden, schon deshalb, weil der „Stoffel“ – so hieß er – und die Osebaas und die Käthrein in ihrer Liebenswürdigkeit dem Lehrer öfters die Gartenanlagen und –erzeugnisse zeigten, dann aber auch wegen der dichtgewachsenen Weißdornhecke, die den Garten einfriedete.

Doch wir mußten heran, koste es, was es wolle. Kriegsrat ward gehalten, alle Möglichkeiten erwogen, die das Unternehmen gefährden könnten, die Tätigkeit unserer Klatschbasen aufs schärfste beobachtet. Tag und Stunde schienen als günstig herausgefunden zu sein.

Da trafen sch, schon siegesbewusst ob der guten Vorbereitung, der Mattes, der Nikla, ich, alle Genossen – es waren dieselben, die beim Kaiserläuten mitgewirkt hatten – und unter vorschriftsmäßiger Absicherung der eventuellen Überfallsstellen ging der Angriff auf das kostbare Gut los.

Der Mattes, als der Tapferste von ehedem, schlug unter Einsatz seines nagelneuen gezwirnten Sommeranzuges, ohne Rücksicht auf Hände und Gesicht, eine Bresche in die Dornhecke, so groß, daß sie gerade reichte, seinen langen Körper hindurchzuschieben.

Die strategisch wichtigen Stellen hatten wir mit Posten derart besetzt, daß wir uns vollkommen sicher fühlten. Nur eins hatten wir vergessen. Der Garten lag ostwärts hinter dem umfangreichen Wirtschaftsgebäude, von dessen Hof er zu überschauen war. Von der Rückseite behinderte die Hecke jeglichen Einblick. Zudem zogen sich dort zwischen dem Garten und den nächsten von Menschen begangenen Wegen lange Fruchtäcker hin. Nur ein schmaler Fußpfad längs eines Feldstreifens diente als Privatweg für die Hummes, wenn jemand von ihnen das an der Wegkreuzung gelegene Heiligenhäuschen mit Blumen oder Lichtern neu ausputzen wollte.

Dieses Pfädchen hatten wir nicht gesichert. Es lag heute auch gar kein Anlaß vor. Noch vor wenigen Minuten hatten wir die Hummes, einen jeden in seinem Beschäftigungsbereiche, gesehen.

Der Mattes zwängte sich also durch die Festungslücke, und schon saß er unter einem von Früchten strotzenden Stachelbeerstrauche. Mit einer Schnelligkeit ohnegleichen führte er bald mit der rechten, bald mit der linke Hand Beere auf Beere dem Munde zu, so daß uns draußen auf der Beobachtung das Wasser im Munde zusammenlief, der Neid sch regte und bittere Vorwürfe wach wurde: „Warm bist du nicht der Tapferste gewesen?“

„Mattes! Mattes!“ rief es von allen Stationen, „denkst du auch an uns?“

„Mmja!“ stieß er durch seine beschäftigten Zähne, daß einige Beeren von der überfüllten Ladung zu Boden kollerten.

Doch Mattes war nicht so, er dachte auch an ns. Die Taschen wurden jetzt zwischendurch auch noch tüchtig gefüllt, so reichlich war der Behang.

Unsere Ermunterung an Mattes hatte wohl der Kettenhund gehört; denn schon bellte der miserable Köter ganz fürchterlich, ohne daß ein Kater ihn dazu gereizt hätte. Wir ermahnten Mattes zur Eile, da die Osebaas sich im Hofe sehen ließ, und zogen uns von unsern Beobachtungsposten langsam in die Fruchtfelder zurück, wo di Beute ehrlich geteilt wurde.

Doch da platzte plötzlich in unser Lager eine Bombe: Käthrein näherte sich auf dem Pfädchen, vom Heiligenhäuschen kommend. Sie hatte Besuch durchs Dorf „unten herum“ wegbegleitet, dann noch eben nach dem Schmuck des Heiligenbildchens geschaut und den kürzesten Weg ins Heim genommen. Wir sieben auseinander. Von unsrer Beute war nichts mehr zu sehen.

Käthrein schloß auch ahnungslos das Hintertörchen auf; aber, o weh! Was sah sie im Garten?

Mattes hatte die Sträucher so mitgenommen, als ob die Raupen 14 Tage lang sich daran gesättigt hätten. In seinem Heißhunger wurden Blätter, selbst Zweige nicht geschont.

Ein Verdacht war da und Osebaas und Käthrein wussten ihre Beobachtungen so geschickt gegenseitig zu ergänzen und zu verwerten, bis ein Strick für uns daraus wurde.

Was nun folgte, ist kurz gesagt. Was die beiden wussten, wusste zehn Minuten später der Lehrer.

Andern Tages standen acht Übeltäter vor Gericht: Eine Woche lang Verdauungshiebe.

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Wir zählten, kriminalistisch genommen, zu den Rückfallsündern. Mochte der Lehrer noch so streng in seinem Strafmaß sein, es hielt uns nicht zurück, jede Gelegenheit zu einem Spaß oder zu einem augenblicklichen Vorteil auszunutzen. Wir waren eben so eingestellt.

Das eintönige Arbeiten und Schaffen in einem Maifelder Dörfchen mußte mit frischem Leben gefüllt werden. Es durfte nicht ein Tag dem anderen gleichen. Unser Inneres verriet Organisationsanlagen in hohem Maße.

Und so organisierten wir bald wieder einen Streich.

Diesmal traf es einen ziemlich Harmlosen, der eigentlich hätte verschont werden müssen. Ein Jungenherz lässt aber solche Feinfühligkeiten nicht hochkommen. Das möge dem weiblichen Wesen vorbehalten bleiben.

„Hänne Pitter“ wurde unser Objekt genannt, ein etwas ängstliches, um Kleinigkeiten besorgtes Gemüt. Er hatte einen kleinen Betrieb, ein Bäuerchen nennt solche der Maifelder. Schlecht und recht plagte er sich um seine bescheidene Familie. Ebenso trippelnd wie er benahm sich auch sein Pferdchen, ein Grauschimmelchen, das er mit Liebe pflegte und zur Herbsteszeit allsonntäglich zum Abweiden des letzten Schnittes auf die Kleefelder brachte. Eine lange, dünne Kette, das „Wiesenseil“ – obschon es mit der Wiese weniger zu tun hatte – wies dem Tierchen seine Portion zu.

Und so freuten sich Besitzer und Schimmel, wenn kurz vor Sonnenuntergang beide befriedigt auf dem Acker sich wieder sahen, um dann den heimatlichen Räumen zuzueilen.

Wir Jungen hatten ein gutes Auge für Vorgänge, die aus dem Rahmen des Alltäglichen fielen. Das traf auch hier zu.

Schon die ganze Behandlung der Angelegenheit durch „Hänne Pitter“ ließ uns aufhorchen, mehr noch eine Gewohnheit, die wir nicht begreifen konnten. Er ließ das Wiesenseil sorglos auf dem Kleefelde zurück und legte es an irgend eine vermeintlich gesicherte und geschützte Stelle, um am nächsten Sonntag wieder davon Gebrauch zu machen.

Hier setzte unsere Heldentat an.

Wir machten unsern gewöhnlichen Sonntagsstreifzug durch die Fluren, heute nach dem „Dreckige Winkel“, wohin unser Lehrer uns auf den seltenen Spaziergängen führte.

Der „Hänne Pitter“ mußte mit seinem Grauschimmel denselben Weg nehmen, und richtig: Da kam er schon.

Trippelnd gings aufs Stück, auf dem er Esper (Esparette) noch reichlich Nahrung bot. Das Pferdchen hatte wie immer sich auf das saftige Grün gestürzt und volle Mäuler gegriffen, ehe ihm der Pitter die Galerenkette angeschmiedet.

Diesmal dauerte es etwas länger.

Wir Burschen beobachteten schmunzelnd sein Gebaren, das allmählich an Unruhe den Höchstgrad erreicht hatte. Wir ahnten und glaubten zu sehen, wie er überlegte, ob er das Seil gegen seine Gewohnheit etwa mit nach Hause genommen haben könnte.

Doch zu diesem Ergebnis schien er nicht gekommen zu sein. Er suchte, und suchte, und suchte.

Das ganze Feld wurde mit den Schuhen abgetastet. Dabei wendete er verlegen seinen Blick ab und zu nach uns herber; aber sein kleines Gehirn vermochte keinen Zusammenhang zwischen uns und dem Seil zu konstruieren, Pitter hielt jeden für so ehrlich, wie er selbst war.

Wir wussten besser, was mit dem Seil geschehen war.

Wohl hatten wir etwas Mitleid mit dem Schimmelchen, dem heute schließlich seine saftige Nachmittagskost hätte verloren gehen können; aber unsere Freude mußte voll werden.

Entweder ging der Pitter nach Hause und ließ sein Pferdchen zurück, oder er ersetzte durch seine Gegenwart das Wiesenseil.

So schlussfolgerten wir. Beides traf nicht zu. Er ging mit seinem Tierchen heim.

Das verwunschene Seil ging ihm nicht aus dem Kopf, und in seiner Zappeligkeit teilte er jedem, der ihm begegnete, die Tücke des Schicksals mit. Bald wusste das ganze Dorf den Spuk um das Wiesenseil von „Hänne Peter“.

Am folgenden Sonntag nahm der Pitter, der das Seil nirgends finden konnte, außer seinem Grauschimmel die halbe Familie mit zum Weidefelde; denn er getraute sich nicht allein dem Geheimnis näher zu treten.

Friedlich lag indessen, wohl etwas angerostet, das Seil unter dem Walnussbäumchen – dorthin hatten wirs wieder gebracht – und sah ganz erstaunt in das angstvolle Gesicht Pitters, den man unter Gelächter der Angehörigen mit dem Pferdchen allein ließ.

Da dämmerte ihm plötzlich etwas von dem verschmitzten Getue der Jungen am letzten Sonntag, die sich auch heute wieder zufällig auf dem Wege zum dreckiger Wenkel befanden.

Er nahm sich ein Herz und stellte uns zur Rede. Wir pressten ihm das Versprechen ab, nichts davon dem Lehrer zu sagen. Und als er in ehrlicher Form dies getan, erzählte unser Wortführer – ich weiß nicht, wer es war – ihm den Hergang der Spukgeschichte:

„Wie wäre es, wenn wir dem Pitter das Seil versteckten“, hieß es vor 14 Tagen unter uns. Ei großartiger Gedanke, der sofort in die Wirklichkeit übertragen werden sollte. Das Seil wurde aufgesucht, in einer Grenzfurche vergraben und die Grabstätte sorgfältig mit einigen Grasbüscheln getarnt. Die Hände bis an die Ellenbogen in der Tasche trödelten wir nach Hause, die Backen rund wie Äpfel geformt ob des tückischen Lachens in der Vorfreude des kommende Sonntags“.

Pitter hat Wort gehalten.

Auch wir haben lange, lange über die Angelegenheit geschwiegen, bis auf dem Ackerstück der Anbau mehrfach gewechselt hatte.

 

- 8 -

Der Kinderspiele tiefer Sinn

 

Harmlos waren unsere Spiele, doch steckte drin meist ein tiefer Sinn.

Wir alle spielten mit einander, ob Junge oder Mädchen, ob arm, ob reich –eigentliche Arme gab es bei uns nicht.

Die Verwandtschaft hatte sich etwas enger zusammengefunden. Da waren es zunächst die Kinder von Onkeln u. Tanten: Schmitzkinder, Hoffmännches Jungen, Schostesch Mädchen, auch Reicherts Jungen und einige mehr.

Was wir alles spielten? Wir hatten es besonders mit dem Handwerk zu tun. Das lag nun einmal im Blute. Mit Hammer u. Zange wussten wir alle umzugehen. Ich schlug mit Vorliebe Nägel ein.

Da stand an einer Hausecke ein mächtiger, kurzer Pfahl – ich glaube, er wurde beim Aufziehen der Radreifen benutzt – den ich mit neuen Hufeisennägeln vollständig zu einem „Genagelten“ machte. wie dies mit Tischplatten und andern Gegenständen während des Krieges geschah.

Nicht selten flog mir beim Krampfen dieser Nägel ein Schmiedehammer nach, den Bruder Johann immer lose in der Hand hatte.

Alles konnte ich gebrachen. Oft verbannte ich mir die Finger beim Suchen eines Stückchens Eisen, das gerade erst als Rest vom Amboß gefallen war. Wie oft eilte ich mit geschundener Hand ans Wasser, den Schmerz zu stillen. Bis zum Einschlafen streckte ich noch unter der Decke her den Finger ins Wasserschüsselchen, während dicke Tränen den Augen entquollen.

Mitleid, gleichbedeutend mit halber Heilung, hatte man allmählich nicht mehr mit mir.

„Ett schad imm nix",  war die höhnische Bemerkung meines Bruders, in die alle einstimmten, sobald ich mit einem gequetschten Nagel, einem geritzten Finger oder mit einer Beule m Kopfe ankam.

Und doch hatten alle Male einen guten Zweck: Ich lernte umgehen mit Handwerkzeug.

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Wir Jungen wurden, wenigstens in den Anfangsgründen, je nach Bedarf, Schmied, Maurer, Zimmermann, Schreiner, Dachdecker. Dazu verhalf uns ein glücklicher Zufall: Bei uns und bei Hoffmännches wurde gebaut, und Reicherts hatten eine Schiefergrube, die immerhin Steine und Laien (Layen) absetzte. Am liebsten machten wir „Speiß“ = Mörtel, das war was zum Matschen.

Einstens wurde ein großes Projekt ausgearbeitet: Ein Backofen solle gebaut werden.

Welch ein Einfall! Ein Backofen? Es war doch gar kein Bäcker unter uns, nicht einmal einer im Dorfe. Da backte jeder sein Brot selbst. Der Mutter hatte man diese Arbeit anvertraut. Und deshalb spielten wir „Backen“. (Vom Backen der Mutter erzähle ich später).

Das Formen der Brote aus dem Matsch der Straßenrinne machte uns stets ein großes Vergnügen. Festliche Anlässe wurden konstruiert, um auch etwas Besseres zu backen, wie das auch vor der Kirmes und in späteren Jahren vor Feiertagen geschah, sei es nun Hochzeit gewesen oder Kindtaufe oder gar ein Sterbefall.

Als Backofen benutzten wir anfänglich das Kellerloch an Schotesch Haus. Es war etwa 20 cm breit und 40 cm hoch und so tief, daß die untere Platte immerhin eine nette Fläche zum Auflegen der Brote und der Kuchen ergab. Aber für unsern umfangreicheren Besucherkreis an Festtagen obengenanter Art reichte er nicht aus, und so entstand, wie schon gesagt, der Plan, einen Backofen eigens anzulegen.

Als Baustelle hatten wir eine Ecke in unserem Hofe ausersehen. Ein Teil des Hofes wurde nämlich als Garten benutzt, der aber weniger ertragreich war, weil die Sonne ihm das Licht verweigerte. Mutter zog dort gern ihre Kohlrabipflanzen, die den Schatten der Erdflöhe wegen bevorzugten. Zwei Haselnußsträucher bildeten die einzige Anpflanzung. Dahinter lag eine tote Ecke, wie geschaffen für unsere Pläne. So ganz abseits konnten wir hier hantieren.

Ich hatte einen ganz neuzeitlichen Plan entworfen. Die Backstube sollte eine solche Ausdehnung bekommen, daß man kniend sich darin beschäftigen könnte. Der Ofen sollte von außen bedient werden. Über dem Ganzen war ein Schieferdach vorgesehen.

An Material fehlte es nicht. Hoffmännsches bauten eine neue Scheune. Dort fanden wir vier passende Vierkanthölzer als Eckpfosten. Auch das übrige Gebälk, wie Stützen und Dachsparren, mache uns keine Sorge. Alles war da. Die Wände wurden aus Schwemmsteinen hergestellt. Reicherts Jungen schleppten Dachschiefer herbei. Hoffmännches Johann hatte eine ganze Tasche voll neuer Dachnägel.

Es klappte ganz vorzüglich: Ich glaube, am selben Tage, an dem wir begonnen haben, konnten wir den Strauß setzen.

Daß es aber zum Backen in dem neuen, wunderbaren „Backes“ gekommen ist, kann ich mich nicht erinnern. Mir dämmert, unser Werk wurde von rauer Hand zerstört, da die Väter meiner Lieferanten dahinterhakten und mit dem Fortschleppen von Nägeln usw. nicht einverstanden waren.

Die Spuren unserer Baukunst sah ich noch lange.

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Schade war es doch; denn wir hätten das „Hochzeitsgebäck“, daß wir kurz darauf benötigten, entschieden besser gestalten können. So mußten wir wieder auf unsere ärmlichen Verhältnisse zurückkommen, auf Schostesch Kellerloch.

Es stand eine Hochzeitsfeier bei uns Kindern bevor.

Man staunt. Es war aber Tatsache, und ich selbst war der glückliche Bräutigam.

Ehehindernisse und dergl. mehr schien es nicht zu geben; denn meine leibliche Kousine oder Base (damit meint man aber in Gering die Tante!) stand mir als liebliche Braut zur Seite.

„Schostesch Gritt“ kennt ihr alle als die mit Hansens Theodor richtig Verheiratete in Koblenz-Metternich. Das war meine Auserlesene.

Es mag nun sein, wie es will. Zwischen uns beiden hatte sich von Jugend auf eine verwandtschaftliche Liebe entwickelt, die selten ist, und zeitlebens wird es so bleiben.

Also, es war vor vielleicht 40 Jahren, da zog ein stattlicher Kinderbrautzug über die holperige Straße in Gering, ganz nach Bauernart aufgeputzt und in Szene gesetzt.

Die Braut trug bräutlichen Staat, wobei das schöne Kränzchen nicht fehlte. Der Bräutigam war nicht minder ausstaffiert. Ein Gefolge sondergleichen verschönerte den Zug. Das Brautkännchen, ein Zinnbecher, irgendwo im Schutte aufgefunden, trug man dem Paare voran. Der erste Trunk wurde der Braut in diesem Becher gereicht.

So zogen wir von Verwandtschaft zu Verwandtschaft, die im ganzen Dorfe verstreut wohnt, um nachher in Schostesch, dem Hause der Braut zu landen und den Schmaus abzuhalten.

In der Scheune oder im Garten auf der Bleiche war der Tisch gedeckt. Dort standen selbstgebackene Kuchen in großen Mengen. Es fehlte nicht an Wein und sonstigen Getränken, die alle mit viel Geschick nachgeahmt worden waren.

So wurde denn gefeiert: gegessen und getrunken, geredet, getanzt und gescherzt, bis die Hochzeitsstimmung zum Höhepunkt gestiegen und bis zum Abend anhielt.

Damit war aber auch unsere Heiraterei zu Ende; denn die Hochzeitsreise am folgenden Tage ging zur Schule.

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Nicht minder ahmten wir Trauerfälle nach. Ich mußte auch hierbei die Hautrolle spielen: Mir war die pastorliche Tätigkeit zugedacht.

Diesmal hatte ich andere Spielgenossen: Schneiders Katt und dessen Freundeskreis.

Es war ein Kindchen gestorben, wahrscheinlich die Puppe von Katt. Sie mußte sachlich beerdigt werden. Ein Kästlein diente als Särglein, und in unserm Garten sollte die Bestattungsstätte sein.

Wir zogen in Trauerprozession dorthin. Ein Mädchen trug den Sarg auf dem Kopfe, wie es in Wirklichkeit Sitte war. Das Kreuz fehlte auch nicht, und ich nahm die Zeremonien vor. Zum Schlusse wurde über dem Grabe das Kreuzlein errichtet.

In echt kindlicher Einfalt vollzog sich alles, nur die Eltern, besonders die Mütter, sahen es nicht gern. Sie konnten sich von Resten alten Aberglaubens nicht befreien.

„Dann stirbt einer bald“, sagten uns die geängstigten Mütter.

Und als nun tatsächlich kurze Zeit darauf verschied, waren wir selbst als Kinder schwer erschüttert und hatten Neigung, dem Aberglauben auch zu huldigen.

Auf alle Fälle haben wir nie mehr Beerdigung gespielt.

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Und nun zum Brotbacken der Mutter.

Alle zwei Wochen herrschte im „Gemeindebackes“ reges Leben. Zwei, drei Familien backten zusammen. Ich glaube, 75 Brote, 4 bis 6 Pfund schwer, gingen in den Ofen. „Mir sein mor am backe, “ sagte Mutter zu Vater, der nun wusste, daß Holz zurecht gelegt werden mußte zum Anheizen des Ofens. Schanzen aus Schwarzdorn, der in der Geringer Gegend an Feldrainen und an sonstigen für den Anbau weniger geeigneten Stellen reichlich wucherte, dienten in der Regel dazu. Ich mußte deren drei, vier andern Tags in aller Frühe zum „Backes“ schleifen.

Mutter setzte den Sauerteig, der in einem Leinensäckchen irgendwo in der Kammer aufbewahrt wurde, in der „Backmohl“ an. Er wurde sorgfältig zugedeckt.

Morgen sollte daraus die große Teigmasse werden, die für 20 bis 25 sechspfündige Brote reichte, Brote „aus echtem deutschen Korn gebacken“.

Dreimal, wenn nottat, viermal wechselte im Laufe des Tages im Backes das Bild.

Wir waren diesmal am „Anbacken“, nachdem der Ofen 14 Tage lang kalt gestanden hatte. Da verlangte es etwas mehr Brand.

Dafür hatten Vater und Mutter, auch die andern Mitbacker das Recht, ihn in der Ruhezeit für andere Zwecke zu benutzen: Zum Trockenen von Zwetschgen, Birnen, zum Dörren von Fleisch und auch zum Rösten des Flachses.

Mutter stand heute zeitig auf. Es galt, den Teig zu bereiten. Ich fehlte nicht, wir hatten Schulferien.

Die sehnigen Arme der Mutter verarbeiteten die zähe Masse, bis sie allmählich formfähig waren. In großen „Mangen“, gewöhnlich zwei an der Zahl, wurde der Teig ins Backes getragen.

Dort war Vater schon mit Heizen beschäftigt. Beim Anstochen war ich selbstverständlich. Wie das knisterte, wenn die Flamme die dürren Dornschanzen packten!

Man glaubte die Schreckstimmen der jungen Heimchen zu hören, die im Gemäuer des alten Backes sich eingenistet hatten und nun plötzlich in ihrer Behaglichkeit gestört wurden. Sie eilten nach oben auf das Dachgeschoß, um dort bei ihren Eltern Schutz zu suchen, die solche Gefahren kannten und sich nicht so nahe heranwagten.

Diese erzählen nun, nachdem sie die kleinen beruhigt, ihnen das von den Ahnen und Urahnen überlieferte: Sie nennen die Namen derer, die in dem Hause ihr Brot gebacken seit langer, langer Zeit. Sie schildern die heiteren Schulstunden, die se auf dem Dachgeschoß belauscht, als dort der Lehrer Resch, wohl der erste Lehrer Gerings, sich mit den ungeschlachten Bauernjungen und –Mädchen abquälte. Sie wissen von dem Geplauder der Backfrauen im Backraum unter ihnen mitzuteilen aus alter und ältester Zeit. Fürwahr, die ganze Geringer Chronik offenbart sich ihnen.

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Da unten waren nun wieder drei Frauen mit Vater und anderen Dienstbeflissenen in heiterem Gespräch. Auf dem langen „Wirktisch“ an der Längsseite des Backes wurden die Brote geformt mit der Geschicklichkeit eines Bäckers.

Indessen wusste das Ammi noch mehr als das Lies, und das Änn übertraf sie alle mit seinen „Neuigkeiten“.

Nach einer halben Stunde ging das „Einschießen“ der Brote los, und etwas später war das „Flammenplätzchen“, das am Leuchtfeuerchen, gleich neben der Ofentür, gebacken wurde, gar und wurde unter uns Jungen und Mädchen verteilt.

Wie das schmeckte! Noch köstlicher mundete das „Apfelhäuschen“, ein mit Teig umhüllter gebackener Apfel.

Zwei Mangen mit herrlich duftendem Bauernbrot wurden zwei Stunden später nach Hause getragen. Das Backgeschäft war noch einmal gut vorüber. Vierzehn Tage lang sah die Mutter das Backen nicht mehr, wenn sie nicht inzwischen von ihrem Benutzungsrecht als „Anbacker“ Gebrauch gemacht hatte.

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Diesmal sollte der Flachs geröstet werden, einen Morgen hatte der Vater gepflanzt, eine prächtige Ernte war gut hereingebracht.

Das Brechen stand bevor, und daher mußte er in den Backofen, um so brüchig zu werden, daß die „Bresche“ ganze Arbeit leistete. Kein Holzteilchen durfte mehr an der Leinfaser haften.

Die größre Freude war für mich, in den Ofen zu kriechen und den Flachs herauszuscharren.

 

- 9 -

Glück beim gefährlichen Spiel

 

Eines unserer liebsten Spiele war das Versteckenspiel.

Dazu bietet ein Bauernhof Gelegenheit in Fülle. Da gibt es eine Scheune, Ställe, Schuppen, Remisen, Winkel im Hofe, verborgene Stellen hinter Ackergeräten aller Art und vieles mehr.

Ort der Spiele war in den meisten Fällen Schostesch Behausung oder die unsere. Ich glaube, daß man hier wie dort das größte Verständnis fürs Kinderspiele hatte.

Zu Hause hatte ich als Jüngster manches voraus, und in Schostesch, wo längere Zeit eine kranke Mutter lag, ließ man den Kindern freies Spiel.

Ein Versteckenspiel hätte uns zum Verhängnis werden können, wenn nicht der Schutzengel dabei gewesen wäre.

Diesmal wars wieder mal bei uns. Schostesch Mädchen, Gritt, Katt und Lieschen nahmen teil. Wir wetteiferten im Finden der schönsten Verstecke. Gritt und ich durften uns verstecken. Da war in der Scheune eine wunderbare Gelegenheit, die noch keiner ausgenutzt hatte. Der Kastenteil unserer Schubkarre (Schlagkarren) lehnte schräg mit dem Boden an der Tennenwand; einige „Beiche“ (Bund) Stroh, die zum Bendelknüpfen bestimmt waren, standen puffig im Karrenkasten. “Me welle do äen dä Kaste john, do find uß kaner,“ so schlug Gritt begeistert vor.

„Manste?“ fragte ich noch kurz, und schon hockten zwei in einem sicheren Versteck.

Man rennt in der Scheune herum, dicht an uns vorbei, immer wieder läuft der Suchende anderswo hin.

Kichernd verfolgen wir die Tritte der andern, die schon längst gefunden waren. Jetzt geht’s in die Stallungen, in die übrigen Schlupfwinkel.

Unser Kichern nimmt kein Ende, die Freude übermannt uns, die Ruhe geht verloren, da, die große Angst um unser Leben entreißt uns einen gellenden Schrei.

Alles stürzt in die Scheune, das Schlimmste befürchtend: Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Kinder.

Wir beide fehlen, uns muß was zugestoßen sein.

Angstvoll ruft man unser Namen, wir geben keine Antwort, wir sind vor Schrecken sprachlos geworden, oder, wollen wir unser Versteck noch immer nicht verraten?

Bruders Auge hatte einen Schürzenzipfel erspäht, der unter dem Rande des Karrenkastens hervorlugte. Das Bild der Scheune bot nichts Besonderes, so friedlich lag der umgestürzte Kasten da, und man konnte sich nicht erklären, wie wir unter den Kasten gekommen waren.

Wir beiden wußten es und empfanden im Innern heißen Dank ob des Glückes, das uns zuteil geworden war.

Und Vater und Mutter und all andern gedachten still des rettenden Engels.

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Schutzengel verließ mich nie.

Hatte er in meinen ersten Lebensjahren die Glasscherbe von meinem Auge ferngehalten, so minderte er diesmal die Heftigkeit eines Falles vom haushohen Strohbarmen in Schostesch Hof, wo die Dampfdreschmaschine an der Arbeit war.

Zwar trug man mich bewußtlos ins Haus, weil mein Kopf auf das arte Pflaster geschlagen war; aber nach einigen Minuten lachte mein Gesicht die erblassten Umstehenden an, als ob nichts geschehen sei

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Schlimmer mußte schon ein „Fall“ im „Bradill“ gewesen sein. In dieser Gemarkung hatten wir eine Wiese. Es war Heuernte, und die Vogelkirschen eines dicken, bejahrten Baumes lachten mich an.

Solange quälte ich den Vater, bis er nachgab und mir auf die untern Äste des Baumes verhalf. Ich konnte den Baumstamm nicht fassen, deshalb ging es nicht allein.

Nun saß ich auf dem Baumstumpf und rief Vater freudig zu:

„Ett er jot, ech kann allan wieder.“

Und kaum hatte Vater den Rücken gekehrt, da lag ich besinnungslos unter dem Baume. Der Stumpen war morsch und er hatte nachgegeben.

An einen „Heuhoppen“ gelehnt, wurde ich wach und sah in Vaters bleiches Gesicht.

Zum zweitenmale dachte er an seines Jüngsten Tod. Eine höhere Gewalt hatte auch hier anders bestimmt.

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Mein Kousin aus Polch, der Johann, war auf Besuch.

Er zählte drei Jahre mehr als ich, und trotzdem: wir beide spielten zusammen.

Die Erntezeit ist ein Erlebnis für uns Landkinder. Da muß man dabei sein, wenn gemäht wird, wenn gebunden wird. (Leider ist das Romantische durch die Maschine zum großen Teil verloren gegangen).

Das Einbringen des reichen Segens ist unstreitig das Köstlichste.

„Schwer herein schwankt der Wagen, kornbeladen.“

„Fünf Lagen“ Garben war eine Leistung für den Einspänner. Doch heute wurden sie geladen; es waren die „Letzten“ von dem Felde „Am breite Weg“, an der Straße nach Einig zu gelegen.

Wir beiden Wildfänge, der aus Polch und ich, sind hinter dem Wagen. Mutter, die damals noch rüstig war, geht gemächlich dem Gefährt nach, während Bruder Johann neben dem Gaul schreitet.

Wie ein Hündchen tanzen wir um den Wagen, uns mit Nachlaufen die Zeit des langsamen Schrittfahrens abzuküren. Bald geht’s an der rechten Seite, bald an der linken Seite des hochbeladenen Wagens dicht an den Rädern vorbei, weil der Weg nicht viel freien Raum übrig lässt.

Plötzlich durchdringt ein heller Schrei die Gemarkung. Es war Mutters Stimme.

„Hüh!“ klingt es dem treuen Pferd in die Ohren. Es steht.

Bruder Johann weiß nicht, wie ihm geschieht, so sehr war er in Gedanken über die kommende Arbeit, ohne zu achten, was um ihn vorgeht.

Da liege ich unter dem Wagen, dicht vor dem Hinterrad des Gefährts mit der schweren Last.

Ein weiterer Schritt des Pferdes, und der Kopf wäre mir buchstäblich vom Rumpfe getrennt gewesen.

Mein Lebenspuls sollte noch weiter schlagen.

Mutter kränkelte kurz darauf, bis zu ihrem frühen Tode.

 

- 10 -

Arbeitsbeginn… doch noch kein Ernst

 

In der „Kahl Hell“, in einem Nebentale der Elzbaches, hatten wir eine Waldparzelle. Sie gehörte als gemeinsames Erbstück meinem Vater nebst seinen drei Geschwistern in Gering.

Gemeinsam wurde auch der Holzertrag eingebracht und redlich geteilt, wie dies gleichfalls mit den Steuern geschah.

Ein „Schlag“ war gerade fällig. Vater, Onkel Hannes, und Onkel Paul gingen eines Morgens zum Aufschanzen dorthin.

Schmitz Johann, mein Kousin (Vetter!), vertrat seinen Vater; denn er war schon aus der Schule.

Ich schloß mich an. Holzfällen, Schanzenmachen war wieder etwas Neues; das mußte ich sehen, das mußte ich lernen.

Lohe hatte ich schon einmal mitschälen helfen. Vater hatte mir eigens ein kleines Schäleisen zurechtgemacht.

Daher war auch der heutige Tag für mich ein Freudentag, wenigstens versprach ich mir einen solchen.

Doch wenn es wahr ist, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll, so traf es bestimmt diesmal zu.

Die Arbeit ging rüstig voran. Ich schlug die Reiser mit der „Häb“, einem messerförmigen Hauzeug, zu Schanzenlänge passend und wagte mich sogar an das Drehen einer „Weide“ zum Binden der Schanze. So etwas will gekannt sein.

Doch von Ausdauer ist meine Arbeit nicht gewesen. Das Frühstück wartete ich noch ab; denn so ein Waldfrühstück ist etwas Kostbares. Da schmeckt das Butterbrot wie Kuchen und der schwarze Kaffee wie Himbeersaft. Man kommt sich vor, als ob man in der Fremde zu Tische säße.

Ausnahmsweise wurden heute mehrere Tassen Kaffee einverleibt trotz der Trockenfütterung an Mutters Tisch.

Bis zum Mittag suchte ich dann Vogelnester, jagte nah Eichhörnchen, dann gings wieder frisch an die Arbeit, d.h. ich sah zu, wie Vater und Onkel Schanzen banden, die von mir nach dem Aufstapeln gezählt wurden.

Da fehlte es an Weiden, und Schmitz Johann erhielt en Auftrag, solche zu suchen, wobei ich mich zur Abwechslung gern anschloß. Dabei durchstreiften wir den ganzen Hang; denn es mußten schmucke Buchenreiser oder auch Eichen- oder Birkenreiser sein. Nach oben zu war die Aussicht auf Erfolg besser, und deshalb forschte ich bis zum Kamm.

Dort entdeckte ich interessante Gegenstände. Schieferplatten lagen hier in Fülle, von der Witterung bloßgelegtes Gestein.

Der Johann war mittlerweile nachgepirscht. Ein Versuch belehrte uns, daß die Steine in wundervollen Sprüngen zu Tale zu rädern seien. Wie Lawinen fegten sie über Stock und Stein, über Ginstersträucher und Buchengestrüpp in den Holzschlag hinein.

Wenn wir den ersten Platten noch nachgeschaut hatten, so begannen wir bald ein regelrechtes Wettkegeln mit unsern Dingern, nicht ahnend, daß sie großes Unheil anrichten könnten. In dem Ansetzen hatten wir nämlich eine solche Geschicklichkeit erworben, daß die Kegelbahn sich bis zur Talsohle verlängerte.

Vater und Onkeln sausten die Steinplatten haarscharf an den Köpfen vorbei.

Unser Spiel wurde jählings durch ein Rufen zum Nachhausegehen abgebrochen.

Noch immer ahnt uns nichts Schlimmes, nur eins fiel uns auf: es war noch früh am Tage. Doch dieser Gedanke kam nicht durch.

Wir wußten erst, was wir angerichtet hatten, als wir unten Spießruten laufen mußten: Vater und die beiden Onkel standen mit langen Gerten je hinter einem Holzstoß und empfingen uns mit „liebenden“ Händen.

Holzfällen und Schanzenbinden sollen uns beiden keine Freude mehr gemacht haben.

 

- 11 -

Schüchternheit oder Bescheidenheit

 

Ich war als Junge sehr schüchtern, d.h. allein hatte ich weniger Mut, nur in der Kameradschaft mit meinen Altersgenossen zeigte ich Temperament.

So hatte ich eine große Angst, wenn ich zum Pastor oder zu einem Lehrer in der Nachbarschaft oder auch in ein anderes Haus geschickt wurde, irgend einen Auftrag auszuführen.

Zum Pastor, dem alten Kettenhofen in Kehrig, mußte ich oft. Er war Ortsschulinspektor. Als solcher stand ihm der Einblick in alle Schulverhältnisse zu. Deshalb hatten wir vor ihm ganz gewaltigen Respekt.

Mich konnte er gut leiden. Ich war neben Hoffmännches Antun sein Läufer in allen Dingen. So trugen „Beichtzettel“ rund, sammelten Ostereier u. dergl. mehr. Mein schweigsames Benehmen hatte mir wohl diesen Vertrauensposten eingebracht. Ich tat es aber gern.

Unser Lehrer war knickerig, wie wohl alle armen Schulmeister; dagegen gabs beim Pfarrer immer etwas. Seine Haushälterin, die Lisbeth, verabfolgte stets ein großes, belegtes Butterbrot. Ab und zu, bei kaltem Wetter, setzte sie sogar ein Glas Wein vor.

Alles verzehrte ich mit Wohlbehagen in der größten Stille, und wenn auch der „Här“ oft ein Geldstück in meiner Hand ließ, so war ich um keinen Preis zum Reden zu bringen:

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Nicht gern ging ich zum Lehrer Zenner in Einig. Der Mann hatte einen zu gefährlichen Blick. Und doch war er nicht gefährlich. Er hatte, das leuchtet mir jetzt ein, einen Pädagogenblick.

Das erfuhren wir bei einer Vertretung unseres Lehrers.

Wir hatten bald den Zenner lieber als unsern Lehrer, vielleicht auch wegen des Neuen. Dennoch, wenn Zenner durch „Stärfesch Wenkel“ kam, dann ging ein Zucken durch uns. Das hieß für uns: Stillgestanden!

Nun ja, Kinder scheinen eine gute Nase für die Tugenden und Untugenden ihrer Erzieher zu haben.

Wie dem auch sei, ich war als Junge immer froh, wenn ich möglichst schnell von hohen Persönlichkeiten mich entfernen konnte.

„Du gehst nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst“, schien mein Leidspruch zu sein, unbewußt.

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Die Onkel und Tanten auf den andern Dörfern zählten auch mehr oder weniger zu denjenigen, vor denen ich schüchtern bis zum Schweigen war.

Da sollte ich eines Sonntags nach Polch gehen, um zum Kirmesbesuch einzuladen. Es hatte sonst wohl keiner Zeit dazu.

Welch eine Qual für mich!

„Da bin ich zu bange“, war meine Ausrede; aber es half nichts. Also zog ich los, nach Polch. Zum Kaffee war ich bereits dort.

„Bist du allein gekommen?“ fragte man.

„N-ja!“ war meine kurze Antwort. Dann Schweigen und Kaffeetrinken.

Der Nachmittag ging mit Spielen. Man war besorgt um mein Nachhausekommen vor der Dunkelheit, und es wurde zeitig zu Abend gegessen.

Man fragte nach diesem und jenem. Von mir kurze Antworten: „N-ja!- Nein!“ Nicht mehr und nicht weniger.

Onkel und Tante hätten aus mir gerne den Zweck meines Kommens herausgehört. Es erschien unmöglich, und sie gingen aufs Ganze:

„Ihr habt am Sonntag Kirmes in Gering?“

„N-ja!“ war meine lakonische Antwort.

Alles sah sich erstaunt an; ich begriff das nicht. und ging heim auf Gering zu, froh, wieder von der beklemmenden Unterhaltung befreit zu sei.

Daheim wurde ich mit tausend Fragen bestürmt. Man wollte wissen, wer zur Kirmes komme, ob mit dem Wagen oder zu Fuß. Wann? usw. Und auf all das konnte ich nur sagen:

„Ich weiß es nicht.“

Vater und Mutter kam das so unbegreiflich vor, daß sie in mich drangen:

„Was hast du denn eigentlich dort gesagt?“ und mir entschlüpfte nun endlich die kindliche Antwort:

„Ech hann jesoht, datt mir Kirmes hätte, nett datt se kumme solle. Datt werse se doch, datt se kumme solle.“

Potztausend! Da schlug ein Gewitter ein.

Mir wurde ein nochmaliger von Vater diktiert; doch durch die gütige Genehmigung meiner Mutter konnte ich die Sache mit einer Postkarte gutmachen.

Mich hat man nicht mehr zum Kirmeseinladen geschickt.

Ich war auch nicht mehr manche Kirmes zu Hause.

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Bei dem folgenden Erlebnis mußte ich aus meiner Schüchternheit heraus; beinahe wäre ich unbescheiden geworden.

So hört, wie das kam.

Zu der Zeit wurden alle Leute, von der ersten Kommunion angefangen bis zum Greisenalter, namentlich zum Beichten bestellt. Abwechselnd kamen bald die Männer, bald die Frauen, bald die Jünglinge, bald die Jungfrauen an die Reihe.

Es war sehr oft im Jahre.

Ich erhielt also mein Päckchen Beichtzettel zum Rundtragen. Im allgemeinen ging diese Arbeit schnell vonstatten, nicht immer so. Bei den „Alten“ haperte es zuweilen. Der eine sah nicht gut, da mußte ich den Zettel vorlesen. Der andere hörte nicht gut, da sagte ich gar nichts, sondern hielt den Zettel vors Gesicht.

Aber wenn einer nicht gut sah und nicht hörte, da mußte ich „Brüllen“.

Zu dieser Sorte gehörte „Brudams Amme“, eine alte Frau mit allen Gebrechen und Mängeln behaftet. Sie wohnte mit ihrem Manne ohne Kinder in einem sehr altertümlichen Hause, in dem sich nur Eingeweihte zurechtfinden konnten.

Ihr Mann war tagsüber auf der Grube; ich traf sie also allein, nachdem ich mich tastend von der unbenutzten Küche aus auf einer gefährlichen, dunklen Treppe in die „Stuff“ (Stube) gefunden hatte.

„Dach!“ sagte ich, mit erhobener Stimme.

Keine Antwort.

Datt Amme hantierte mit irgend einem Etwas in einer Ecke der dumpfen Stube, die wohl nie frische Luft bekam und ließ sich nicht stören.

„Jode Dach!“ schrie ich, an der Türe stehen bleibend.

Wieder kein Mucksen von Amme. Ich holte tief Atem.

„Dach!!“ brüllte ich aus Leibeskräften.

Gemütlich drehte sich da Amme herum und zeigte mir endlich ihr Vorderteil: Eine verhutzelte Gestalt, etwas stark von der Senkrechten abweichend, trat näher und näher, ganz nahe, daß mir ordentlich bange wurde – ich dachte im Augenblick an die Hexe in Hänsel u. Gretel – uns stellte an mich die Frage:

„Watt manst dau?“

Ich war platt. Mein Brüllen war zu schwach gewesen, und ich nahm alle Kraft zusammen, die mein jugendlicher Körper aufwies, pumpte Luft in der muffigen Stube, alle Luft, die drinnen war, und holte unter Vorhalten des Zettels nochmals zum Sprechen aus:

„Ihr sollt am Samstag beichte john, um drei Aure!“

„Watt haste jesoht?“ stierte mich Amme an.

Meine Kunst schien am Ende. Ich war der Ekstase nahe, nicht ob der Seligkeit, die mich verzücke, nein, ob es Schwindens menschlichen Könnens.

Und trotzdem, erneut nahm ich einen Anlauf gegen Ammes Taubheit, und noch einmal brüllte ich bei bebendem Körper. Und zum drittenmale.

Da hatte es Amme in den Anfangsgründen erfasst.

Zum Glück erschien ihr Mann in der Tür, der wahrscheinlich besser mit ihr umzugehen wusste.

Für mich war die Mission erledigt, doch

„Lang mir noch im Ohre lag

Jener Klang vom Hügel.“

 

- 12 -

Was aus dem Jungen werden soll

 

Schon frühzeitig verriet ich Liebe zur Musik.

Dem „Homeje Kläs“ lief ich durchs ganze Dorf nach, wenn er mit seiner Ziehharmonika aufspielte oder der Geige mit viel Geschick die schmeichelhaftesten Töne entlockte und unter seinem großen, breitkrempigen Hut das zufriedenste Gesicht der Welt uns entgegenstrahlen ließ. Sein schwerer Brotbeutel füllte sich bis zur Unförmlichkeit, und in der Tasche klimperten die Münzen.

So einer hätte ich werden mögen.

Ich sah ja nur das zufriedene Gesicht des Musikanten u. kannte nicht seine Not zu Hause, die sich durch die Lumpen an seinem Körper verriet. Ob es so war, ich weiß es nicht.

Also Musiker hätte ich werden können; das meinte auch Onkel Paul. Aber keiner wie der Homeje Kläs, nein, Stabstrompeter bei den Kürassieren in Köln-Deutz. Das war was für den Jusepp (Josef).

Und Onkel Paul schilderte in seinem soldatischen Eifer den stolzen „Fellenberg“, wie er hoch zu Roß vor der Eskadronskapelle ritt, in schmucker Uniform, den Stab schwingend.

Nein, Kommiß ist nichts, meinten die besorgten Tanten.

„Das sind alles schlechte Kerls“, unterstrich Mutter.

Aber da half mein Onkel und Pate aus Pillig aufs Rechte:

„Offizier wird er.“ „Und wenn möglich, ein Kavallerieoffizier,“ verbesserte er sch, da er als alter Husar von 1870/71 besonders für diesen Lebensberuf schwärmte.

Auch schien mir schmeichelhaft das Soldatenlegen; es ist das schönste auf der Welt, deuchte mir. Von den Einquartierungen bei den Maifelder Manövern war ich ganz geblendet. So ein Soldat ist ein feiner Mann, etwas anderes als ein dreckiger Bauer.

Die schmucke Uniform hatte es mir angetan. Da kam zu Weihnachten, zu Ostern oder sonst im Jahre „der Jung von unserm Gritt“ in Urlaub. War das ein feiner Mensch mit den goldenen Tressen an Kragen und Ärmel!

Und was der immer alles mitbrachte für mich! Das war die Hauptsache, wenigstens für mich. Bei andern wohl nicht, sicher nicht bei meiner Schwester.

Von nun an wollte ich Soldat werden.

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Da hatte Onkel Paul auf einmal eine andere Laufbahn für mich entdeckt: Förster sollte der Junge werden. Da haben wir beides zusammen, schöne Uniform und eine Waffe.

„Hah, so im Walde herumstreifen und Hirsche und Rehe u. Hasen und Füchse jagen, daß muß etwas Wunderbares sein,“ schmunzelte er in den Bart.

„Da streiten sich die Laut´ herum,

Am End weiß keiner nix…“

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Bruder Johann hätten mich lieber in der Schmiede gehabt, dann konnte er Lehrmeister spielen … o weh!

Vater sah in die Zukunft.

Zwei Schmiede in dem kleinen Dorfe ist zu viel; zwei Höfe aus dem einen machen, ist auch nichts. Der Jung muß studieren, wenn es geht.

Da soll nun der Lehrer ausschlaggebend sein. Und der gab Vater den Rat, mich Lehrer werden zu lassen.

Aber ehe der Plan feste Form annahm, war noch manches Hindernis zu überwinden.

Bruder Johann konnte es nicht begreifen, daß es der „Krotz“, wie man mich immer noch nannte, besser haben sollte als er.

Meine Mutter schreckten die vielen „Kosten“, wodurch die andern Kinder, vor allem der „Älteste“ hätten leiden können.

Auch zweifelte man an meinem Fleiße, weil ich am „Schaffe“ keine Art hatte. Mein Sinn stand ja nur auf „dummes Zeug“, wozu man Musik, Lesen und Schreiben rechnete.

Ich muß gestehen: Die Bauernschaft behagte mir nicht.

Sollte ich im Felde während der Ernte Ähren lesen, so frage ich oft: “Bo sei se dann?“ während mein Auge eine Lerche erspäht und ich dem Triller zugehört hatte. Einmal machte ich Vater den guten Vorschlag:

„Wir wollen aufhören mit Kornmähen, unser Gritt ist zu müde.“

Das sagte ich mit Rücksicht auf deren mehrmonatige Erkrankung an Gelenkrheumatismus, vielleicht mehr mit Rücksicht auf mich?!

Hört noch, wie man mein musikalisches Gehör entdeckte!

Schon sehr früh spielte ich Mundharmonika; auf jeder Kirmes mußte ich so ein Ding haben, und nun war mein Wunsch eine Ziehharmonika, wie der Homeje Kläs eine hatte. 6,75 M kostete so ein Ding aus Klingenthal i/S, las ich im „Paulinusblatt“, oder wie die Zeitung hieß.

Fortwährend quälte ich Vater, mir das Instrument schicken zu lassen.

„Watt? Soviel Geld für den Krotz? Und dann so´n dummes Ding?“ machte sich Bruder in seiner Empörung Luft.

Vater hatte Lust, nachzugeben, ich merkte es, und trotz Gegendruck, ich bekam eine Ziehharmonika.

Ich war selig und spielte am ersten Tage nach ihrem Eintreffen schon Lieder auf dem Quetschebeutel zum Erstaunen und zur Freude der ganzen Familie. Selbst Vater und Bruder riß die Begeisterung hin, und sie versuchten das Spiel; aber sie konnten nichts Gescheites herausquetschen.

Vater schmunzelte: Sein Jüngster war wirklich musikalisch, was ja auch ein Lehrer sein mußte.

„Er wird also Lehrer“, das war Vaters fester Entschluß.

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Mit 13 Jahren bekam ich eine Geige, und nun ging das Musizieren erst recht los. In unserm Haus gabs fortan dauernd Musik, zum Ärger anderer, die mit meiner Berufswahl sich schlechthin nicht abfinden konnten.

In des Lehrers Wohnung übte ich täglich Klavier. Wie herrlich der Klang dieses feinen Instrumentes!

Ein Klavier war mir bis jetzt etwas Fremdes. Damals stand noch nicht in jeder Wirtschaft ein Klavier, geschweige denn in einer Privatwohnung.

Das „bessere Zimmer“ des Lehrers dünkte mir als Salon. So ein feines Zimmer mit feinen Möbeln bekäme ich späte auch einmal, war mein stiller Gedanke, als ich es zum erstenmale betrat. (Dabei waren Tisch, Sopha, Vertiko, Klavier, ein Bild aus der Seminarzeit und ein Landschaftsbild – kein Teppich – die Ausrüstungsstücke!!).

Und wenn der Lehrer ab und zu mit der langen Pfeife kam und nach mir schaute, dann stand ich im Geiste bereits in Amt und Würde.

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Alles dies befestigte meinen Entschluß, Lehrer zu werden, koste es, was es wolle.

 

- 13 -

Die erste Enttäuschung

 

Bis dahin war die Vorbereitung auf den Lehreberuf verhältnismäßig einfach. Der Anwärter nahm bis zum Eintritt in das Lehrerseminar Privatunterricht. Mit 17 Jahren stand ihm dies offen, falls er die Aufnahmeprüfung mit Erfolg ablegte.

Allenthalben waren jedoch schon sogenannte Präparandenschulen entstanden, private und staatliche, die nach einem von der Regierung festgelegten Plan arbeiteten, weil die Anforderungen an den Lehrerstand immer höher geschraubt wurden. Eine Übergangszeit gestattete noch Privatvorbereitung.

Mein Lehrer Pies fand für mich diesen Weg nicht sicher genug, und er riet zum Besuch einer staatlichen Präparandenschule.

Eine solche bestand in Simmern, auf dem Hunsrück. Dahin sollte ich nach meiner Schulentlassung.

Während des letzten Schuljahres wurde mir vom Lehrer in besonderen Stunden neben der Musik noch manches Wissenswerte beigebracht, um so die Aufnahmeprüfung in Simmern zu bestehen.

Ein schlechter Schüler war ich nicht. Die ganze Familie Schwab stellte in der Schule ihren Mann, und mein Zeugnis kann sich sehen lassen.

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Die Schulentlassung ist da.

Vom Pfarrer bekommen wir das Zeugnis. Voll Stolz und in dem Bewusstsein, bald Männer zu werden, ziehen wir nach Hause.

Meine Freude ist etwas gedrückt, mir steht noch eine große Arbeit bevor: Die Schule soll zeitlebens mein Betätigungsfeld bleiben. So hatte es das Geschick bestimmt.

Meine Schulgenossen dünkten sich freiere Menschen.

Sie hatten mich schon mit Beginn meines Geigenspieles gehänselt und den „Schulmeister“ genannt, worunter sie sich einen armen, geplagten Schlucker vorstellten.

Was war auch ein Schullehrer zu der Zeit mit seinen 900 bis 1050 M Jahresgehalt gegen einen Maifelder Bauer!

Das hatte auch öfters Bruder Johann gemeint.

Vater sah jedoch etwas weiter; es dachte an eine Versorgung für das Leben ohne das mühsame „Schaffe“ und „Wühlen“, wie es dem Bauer aufgezwängt war, wenn er neben den andern bestehen wollte, und er hatte recht.

Trotzdem schämte ich mich in meiner Schüchternheit ob dieser Meinung meiner Mitmenschen in Gering.

Ganz verstohlen, die Bücher und Hefte in Papier eingedreht, schlich ich zu den wöchentlichen Stunden in die Wohnung des Lehrers. Zu Hause verkroch ich mich auf das Schlafzimmer, das ich mit Bruder Johann teilte, schrieb da meine Aufsätze und lernte Geschichte, Erdkunde Naturgeschichte u.a.m.

Zwischendurch mußte ich im Hause helfen, bald diesen, bald jenen Gang tun. Aber ich hielt wacker durch, bis ich zur Aufnahmeprüfung nach Simmern sollte.

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Vater, der ein großer Freund des Wanderns war, wollte zu Fuß mit mir nach Simmern gehen.

Dieses Städtchen liegt 40 km von Gering entfernt, mitten auf dem Soonwald. Der Weg war über Hatzenport und Burgen geplant. Hatzenport kannte ich schon. Von dort hatte Vater zum Bauen den Trierer Kalk bezogen. Zu Kirmes wurde „Hatzenporter“ getrunken.

Aber Simmern lag mir am Weltende. Verwandte von uns wohnten dort, sagte mir Vater: Ein Schuster mit Namen Bender.

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Der Tag des Abmarsches ist gekommen.

Für Butterbrote mit Schinken und einige gekochte Eier hatte Mutter gesorgt. Vater vergisst nicht Pfeife und Tabak.

In aller Frühe brechen wir auf, der Mosel zu. Der weg geht über Kollig, Naunheim, Münstermaifeld, Münster-Metternich. Majestätisch erhebt sich die Sonne hinter den Minkelfelder Bergen im Osten und kündigt einen heißen Tag an. Die Natur prangt im vollsten Schmuck: Es ist Vorsommer. Schwerer Nebel, der sich langsam hebt, liegt über dem Moseltale.

Wir sind auf dem Hatzenporter Berg angelangt. Meine Füße fühlen schon den weiten Weg von zwei Stunden. Ich sage nichts davon dem Vater, der wie ein Zwanzigjähriger dahinschreitet.

Es geht nun bergab, denke ich, und vergesse meine Müdigkeit. Das Moseltal tut sich auf, der Nebel ist entstiegen, und die blauen Fluten des Moselflusses entzücken mich. Weinstöcke mit strotzenden Behängen begleiten uns kurz vor dem Dorfeingange.

Eine Fähre bringt uns auf die andere Seite.

Eine Fähre hatte ich noch nie gesehen, und ich habe da nicht Augen genug, dem Spiel des Fahrzeuges zu folgen.

Schon sind wir auf der anderen Moselseite. Eine Landstraße, mit Kirschbäumen bestanden – leider waren die Früchte abgeerntet- nimmt uns auf: Zwei Wanderer, Vater und Sohn, die noch einen weiten, weiten Weg vor sich haben. Simmern liegt von hier noch 4 – 5 Stunden entfernt.

Das sagt mir Vater aber nicht. Wahrscheinlich hätte ich hier schon den Mut verloren, wenn nicht de Mosel mit den rebenbekränzten Höhen auf der linken Flußseite mich völlig gebannt hätte.

Wir stapfen also rüstig weiter und suchen uns in Burgen den Weg zur Höhe durch das Beybachal. Macken heißt das nächste Dorf. Es geht stark bergan.

„Vatte, ech sein mehd“, seufze ich, „Mir well jett roche“.

„Na, noch nett, jeleich“, vertröstet mich Vater. Zur Ablenkung erhalte ich ein Schinkenbutterbrot.

Macken ist erreicht Ich ermahne Vater zum Einkehren; denn meine Müdigkeit macht sich wieder stark bemerkbar.

Doch Vater meint: „Wenn man sich setzt, wird man erst müde.“ Er weiß es als Kämpfer von 1866 und 1870/71 gar zu gut, da gabs lange Märsche.

Ich lasse mich vertrösten bis Dommershausen, dem Heimatsore unseres Lehrers. Und nach weiterm Ermuntern durch Vaters treffliche Worte kommen wir bis Ebershausen.

„Ech sein mehd, ech kann nett mie“, stöhne ich.

Aber wir hatten noch einen langen, langen Weg. Doch unter dem Hinweis auf das nahe Beltheim halten meine Knochen durch bis zu diesem Hunsrücker Dorf.

Hier wird endlich gerastet und tüchtig gestärkt; denn mittlerweile ist es Mittag geworden. Ein gut Stück unserer Reise ist geschafft und trotzdem, es bleibt noch viel übrig.

Mit ausgeruhtem Körper schlagen wir Richtung Kastelaun ein, das wir ach ohne Mühe erreichen. Da sieht es schon etwas städtisch aus, wenigstens scheint mir so, obschon es ein richtiges Hunsrücker Dorf ist. Aber da sind schon etliche Geschäfte; ich dränge Vater zum Einkauf von Essbarem. Vater kauft dann auch eine „Kleinigkeit“, und wir setzen unsern Weg fort.

„Jetzt ist es nicht mehr weit“, ermuntert mich Vater, weil das Reden vom Sichsetzen schon wieder beginnt. Die kurze Ruhe hatte zur kräftigen Erholung meiner jungen Glieder nicht gereicht.

Ein breites Wiesental tut sich uns auf. Wir sehen schon im Abendrot das Ziel unserer Wanderung vor uns liegen.

Doch es war eine „Fata morgana“!

Wir fragen nach der Entfernung. Ein Hunsrücker gibt sie in Stunden:

„Noch eine halbe Stunde“, heißt es.

Wir marschieren eine halbe Stunde. Das Dorf ist nicht in Sicht. Auf erneutes Fragen:

„Noch eine halbe Stunde!“

Da flucht selbst Vater ob dieses schnöden Anschmierens, was so Hunsrücker Art ist.

Die Wege scheinen aus Gummi zu sein, so ziehen sie sich hin. Mir sinkt der Mut. So müde und dann morgen in die Prüfung!

Vater ist auch bald untröstlich. So weit hätte er sich´s nicht vorgestellt, das Simmern.

„Simmern, 2 km“

Ein erlösender Wegweiser!

Und bald zeigt sch das Städtchen, wovon ich aber in meiner Übermüdigkeit wenig Notiz nehme.

Es dunkelt bereits beim Auffinden unseres Quartiers. Wir werden freundlich empfangen. Von den Anwesenden kann ich mir keine rechte Vorstellung mehr machen.

Es geht auch bald zu Bett.

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Des andern Morgens stehe ich unter den vielen – es waren über 100 – die alle ihr Glück versuchen wollen, auf dem Hofe der Präparandenschule.

Der Rektor Weyrauch, ein kleiner, gesetzter Mann erscheint.

Wir werden in Gruppen eingeteilt, und schon sitzen wir mitten in der schriftlichen Prüfung. Die Themen und Aufgaben habe ich vergessen.

Gegen Mittag werden wir gefragt:

„Wer will für die 1., 2., 3. Klasse geprüft sein?“

Ich melde mich unvernünftigerweise für die 2. Klasse, und bald wird mir eröffnet, daß ich dafür nicht die nötige Reife hätte.

Vater macht große Augen, als er das vernimmt und ist geschlagen. An ein Erkundigen nach dem Wie? und Warum? denkt er nicht. In seinem Ärger geht er schweigend mit mir ins Quartier zurück, und wir rüsten zur Heimreise; aber – wie die drei Weisen aus dem Morgenlande – auf einem andern Wege.

Mit dem Zuge fahren wir bis Rheinböllen und wandern von dort aus durch das schöne, mit Reben bestandene Steegertal nach Bacherach.

Es geht alles schnell und fast wortlos, so ist Vater in Missstimmung. höchstens das eine bittere Wort tönt mir ins Ohr: „Jetzt kannst du daheim arbeiten und hinterm Pfluge hergehen!“

Von dem schönen Rhein genoß ich wenig, meine Gedanken sind in Gering.

„Was wird der Lehrer sagen?“ „Wie werden die Jungen dich veruzen?“ „Wie wird Bruder Johann sich freuen, daß aus meinem Plane nichts geworden?“

Um diese Fragen kreist mein Gehirn. Ich sehe und höre sonst nichts.

Mit dem verzweifelndsten Gesicht der Welt betrete ich spät am Abend mit Vater das Elternhaus.

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Und wie ich gedacht, so kam.

Bei uns zu Lande pflegte man mit Vorliebe von einem „verdorbenen Schulmeister“ zu reden, zu welcher Sorte ich nun auch gehören sollte.

Von Vater hatte ich die ersten Wochen nicht Gutes zu erwarten. Diese Blamage mit dem Jüngsten machte ihn schier unglücklich. Und wenn ich in meiner Liebe zur Musik die Geige piepsen ließ, dann gab er seinem Unmut Luft: “Ich meine, ich könnt dich nicht mehr hören mit der Geige.“

Ich legte sie still weg. Ich kam mir vor wie ein Ausgestoßener. Um Onkel und Tante machte ich einen großen Bogen. Meine Altersgenossen mied ich.

Ich wäre bald ein Einsiedler geworden, wenn nicht mein Lehrer Pies Rat gewusst hätte.

„Es ist nicht schlimm, Herr Schwab“, sagte er eines Tags zu meinem Vater, „den Jungen schicken wir Ostern nach Boppard zu meinem Kollegen Gref, der hat auch eine Präparandenschule. Dort holt er alles nach.“

Wenn das auch ein schwacher Trost für Vater war, so lichteten sich doch seine finstern Augen mir gegenüber recht bald, zumal Schwester Gretchen, die damals vor der Heirat stand, manches gute Wort für mich eingelegt hatte.

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Es dauerte nicht mehr lange, da erhielt ich regelmäßig Unterricht beim Lehrer Pies, mußte aber das ganze Jahr zwischendurch im elterlichen Hause tüchtig „mitschaffen“.

Und so wurde ich teils Bauer, teils Schmied, teils Präparand.

 

- 14 -

Im Kampf mit der Scholle

 

Das Jahr sollte ein inhaltsreiches werden.

Wir steckten vollauf in der Arbeit. Die Heuernte hatte gerade eingesetzt, als mein landwirtschaftlicher Lehrgang begann. Die Getreideernte ließ nicht mehr lange auf sich warten.

In solchen Zeiten des bäuerlichen Hochbetriebes kennt der Bauer kein Rasten und Ruhen, bis alle Arbeit getan ist. Es entwickelt sich dann ein förmlicher Wettbewerb zwischen den Nachbarn, ja alle Hofbauern des Dorfes beteiligen sich daran.

Wer ist der Erste, der seine Ernteeingebracht? Wer ist der Erste, der allmorgendlich hinausrasselt mit seinem Gefährt? Das sind Fragen des Ehrgeizes.

Im allgemeinen ist der Geringer Bauer nicht feinfühlend, aber in Punkto „schaff“ und etwas „aufsteche“ ist er fürwahr fanatisch. Da zeigt er seine ganze Größe auf ureigenem Gebiet.

Ich habe einen Junggesellen im Sinne, der nur ein Thema kannte: Mein Feld, mein Feld und wieder mein Feld.

Und dabei hatte er keine Familiensorgen. Es ging ihm um die Erhaltung und Vermehrung des ererbten Gutes. Hatte er sechs Tage von früh bis spät gearbeitet, so benutzte er den Sonntag, um sich für die kommenden Werktage neue Kraft zu „erschlafen“. Und er schlief von Sonntagmittag bis Montagmorgen, drei Uhr, und dann war er wieder in den Sielen, in denen er wahrscheinlich auch seine „letzte Fahrt“ macht.

Und dieser Junggeselle war nicht der einzige in seiner Art.

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In solchen Wettbewerb spannte man ich ein, und es dauerte auch nicht lange, da war ich ebenfalls fanatisch im „Schaffe“.

Schmitz Johann, ein Vetter, der durch eine Reihe heranwachsender Geschwister im elterlichen Hause entbehrlich geworden war, half bei uns aus.

Vaters Arbeit hatte sich durch Neuerwerb von Land derart gesteigert, daß Hilfe dringend notwendig wurde.

Zwei Pferde standen uns zur Verfügung. Im Stalle verriet eine stattliche Anzahl Kühe und Jungvieh den Wohlstand. Zuchtsauen und fette Schweine grunzten mit Behagen ob der guten Pflege. Der Kamin der Schmiede bewies morgens, mittags und abends, welche Arbeit zwischendurch zu erledigen war. Und im Garten – in Mutters Reich – reiften die Beeren und färbten sich die Frühpflaumen. Die Bohnenstangen vermochten sich kaum auf den Füßen zu halten, so sehr hatte der fette Boden ihren Fruchtansatz gefördert. Ein Gang durch die Fluren ließ den reichen Erntesegen ahnen, der uns beschert werden sollte.

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Heute hat die Ernte begonnen.

Schon wird’s lebendig auf dem Hofe und im ganzen Orte.

Kaum ist der erste Hahnenschrei verhallt, da rasselt irgend ein Wagen über das holperige Pflaster der Dorfstraße. Ihm folgt ein zweiter, Pferde werden zur „Tränke“ geführt, eine Mähmaschine hämmert dazwischen. Es ist so, als ob über Nacht ein Fabrikraum mit 50 Arbeitern im Dorfe entstanden wäre. Mit dem werdenden Tag ist alles Werktätige lebendig geworden.

Auch wir, der Johann und ich, zählen zu den Ausfahrenden.

Vater und Bruder Johann stehen schon seit einer Stunde in der Schmiede. Ein Wagen war reparaturbedürftig geworden. Die Sommerhitze hatte die Reifen gelockert; heute noch sollte der Wagen einen Teil der Ernte nach Hause bringen.

Wir zwei sind inzwischen auf dem Felde angelangt.

Heute heißt´s gearbeitet: Zwei Morgen Frucht müssen bis Mittag liegen, d.h. gemäht und auch aufgebunden sein.

Meine beiden Schwestern sind mit uns eingetroffen, sie hatten den kürzeren Fußpfad ins Feld gewählt. Vater u. Bruder kommen nach, wenn in der Schmiede die dringendste Arbeit erledigt ist.

Prachtvoll steht das Korn im „Breite Weg“. Eine einzige, sanft geneigte Well bilden die Ähren.

Die Pferde an der Maschine trippeln ungeduldig. Sie scheinen zu wissen, daß heute ein gut Stück arbeit zu leisten ist. Sie scheinen auch zu wissen, daß die Mittaghitze unerträglich wird, wenn die Sonne in aller Frühe purpurrot emporstieg.

„Alles in Ordnung“, sagt Schmitz Johann, der die Maschine noch einmal gründlich überprüft hatte, und schon rasselt sie in die überreife Frucht hinein.

Die scharfen Messer bringen die Halme ganz gleichmäßig zur Ablage. „Gelegge“ werden unter der kundigen Hand Johanns geformt, während ich neben ihm, auf der Maschine sitzend, die Pferde steuere.

Der „Fuchs“ zieht heute wie der Teufel, und „Braun“ läßt ihm nichts nach.

Eine lange Mahd ist getan. Im selben Tempo geht es an die zweite auf der gegenüberliegenden Seite, es wird rund gemäht, heißt es.

Gelegg an Gelegg liegt hinter uns.

Die beiden Schwestern sieht man in regelmäßigen Abständen sich bücken und wieder aufrichten. Sie tragen die Gelegge zur Seite, sie eilen, sie laufen, sie können nicht beihalten. Wir haben sie auf unserer zweiten Runde schon eingeholt.

„Hühüh!“ ist das erlösende Wort für unser „Amme“, das so leicht sich nicht in seiner „gründlichen“ Arbeit stören läßt:

„Ech mooß doch de Äje offraffe, me kann doch nett alles leie loße.“

Amme ist groß in Kleinigkeiten. Unser Hinweis auf den Überfluß vermag sie nicht aus der Fassung zu bringen. Sie hat den kleinen Anfang in Vaters Bauernbetrieb miterlebt und kann sich in die „neue Welt“ nicht schicken.

Wir lassen sie gewähren und springen selbst ein.

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Schmitz Johann und ich hatten unterwegs schon ausgemacht, Bruder Johann und Vater zu zeigen, was wir könnten. Ich glaube, es war die erste selbständige Fahrt mit der Maschine.

Es geht weiter.

Fuchs und Braun haben Verständnis für unsern Ehrgeiz, sie tun ihr Bestes. Das Geschirr wiegt sch bereits im Schaume des Schweißes, der dem angestrengten Körper der Tiere entquillt. Vier Runden sind getan.

Im „Bradill“ tauchen die Gestalten der beiden Schmiedemeister auf.

Den Schwestern war auch daran gelegen, Arbeit aufweisen zu können; sie kannten Bruder Johanns Auffassung über die Leistung anderer.

„Hm!“ meint Schwester Gritt, „Haut wierd er over zufriede sein könne.“

Da schallt uns schon „Hannes“ Wort entgegen:

De hann owe noch winneg jeschafft.“

Wir sind sprachlos. Unser Mut kommt ins Wanken. Wir hatten noch keinen Begriff „Schaffe“.

Vater sagt zunächst garnichts. Er wartet auf passende Gelegenheit.

Ein Wechsel auf der Maschine erfolgt: Bruder Johann löst Schmitz Johann ab; ich darf weiter die Leine in der Hand halten.

Es ist etwas wunderbares mit dem Instinkt der Tiere.

Wohl besser als Menschen haben sie ein Feingefühl im Erkennen ihres jeweiligen Herrn. Hatten Fuchs und Braun bis dahin ohne innere Unruhe Runde um Runde gemacht, so wurden sie jetzt plötzlich von einer Unsicherheit erfasst, daß ich meine treuen Tiere nicht wieder kannte.

Die Mahd wird krumm, bald ist die Schnittbreite zu klein, bald zu groß.

Ich halte krampfhaft die Leine, die ich vorhin lose in den Fingern spielen lassen konnte. Aber je mehr ich aufpasse, desto schlechter geht’s.

Da fällt mir Bruder Johann in die Zügel, sie entfallen meiner Hand, die Pferde reißen aus, nein, noch einmal finden sie zurecht und, ich auch.

Ein Redeschwall hagelt über mich bei klarstem Himmel.

Unsere Pferde bemühen sich, der Laune ihres eigentlichen Herrn gerecht zu werden.

Mir klopft das Herz bis zum Halse. Bruder Johann hatte einen zu gefährlichen Gegenstand in seinen schweren Schmiedefäusten, den Ableger. Meine doppelt beanspruchte Aufmerksamkeit – einmal auf die Pferde, ein andermal auf den Ableger – scheint zu versagen.

Der Braun linker Hand wirft sich so ins Zeug, daß die Maschine aus ihrer Richtung herausgedrängt wird. Fuchs kann nicht mit. Ich hänge mich förmlich in die Leine.

Nichts hilft, Bruder Johann liegt wieder in den Zügen, sie entfallen mir, und verwickeln sich ins Getriebe der Maschine.

„Rette sich, wer kann“, ist meine Losung, und weg bin ich von der Maschine, die Pferde ihrem Schicksal überlassend.

In Vaters Nähe finde ich mich wieder, und so entrinne ich dank meiner flinken Beine einem bösen Geschick; denn in solchen Situationen setzt es gewöhnlich etwas ab.

Ich helfe beim Weglegen der Gelegge, und Bruder Johann mag allein mit der Maschine fertig werden.

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Bis Mittag hatte sich das Unwetter verzogen, die zwei Morgen lagen. Wir rückten gemeinsam ins Dörfchen zurück. Ich durfte sogar, auf der Maschine sitzend, die übermüden Pferde lenken. Wir alle waren uns der geleisteten Arbeit bewusst. Wie hungrige Wölfe stürzten wir daheim auf das einfache Mittagsmahl. Es schmeckte ausgezeichnet.

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Die Dorfruhe während der Vormittagsstunden war allmählich unterbrochen: Pferdegetrampel, Wagen- und Maschinengerassel erfüllten die Lüft. Der eine oder der andere, dem es nicht so recht „geflubbt“ hatte, wollte trotz Mittag noch fertig werden. Auch ein Spätaufsteher, der immer zu spät kam, war dabei. Die meisten ließen ihre Pferde am frischen Brunnenwasser sich laben, um ihnen dann die wohlverdiente Mittagsruhe zu gönnen.

Ein ganz „Ehrgeiziger“, der „Pitteschpaste Paul“ steuerte, neu ausgerüstet, schon wieder dem Felde zu.

Schmitz Johann und ich huschten diensteifrig vom Tisch weg, die Pferde zu versorgen, nachdem wir mit den nötigen Weisungen für den Nachmittag versehen waren.

Vater und Bruder wurden schon in der Schmiede erwartet. Noch am Tische sitzend rief ihnen von draußen eine ungeduldige Stimme:

„Plog dech jett, ech hann an Eise los am Perd, mir messe heraus!“

Es war einer der Unvernünftigen, der es nicht verstehen konnte, daß der Schmied auch einmal der Ruhe bedürftig ist. Und wenn Bruder Johann sich ob solcher Zumutung zu Wutausbrüchen hinreißen ließ, kam Vaters Ruhe nicht ins Wanken. Und trotzdem, er wurde fertig mit den Leuten.

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Wir zwei kleinen Bauern hatten indessen die Gelegenheit erfaßt, um uns für eine halbe Stunde ins Stroh zu verkriechen und einen erquickenden Schlaf zu tun.

Ein heftiges Rufen und Räsonnieren im Hofe ließ uns aus seligen Träumen hochfahren. Im Hofe wurde es lebendig, man hatte schon wieder zur neuen Ausfahrt gerüstet.

Die Maschinenmesser wurden noch eben frisch geschliffen, die Strohbendel auf den kleinen Wagen geladen, schnell etwas Kaffee getrunken, und in einer haben Stunde stehen wir wiederum in unserer Arbeit auf dem Acker.

Es galt, zwei Morgen Hafer niederzulegen.

Vater ist daheim geblieben; noch so manche Arbeit ist in der Schmiede zu erledigen. Auch tut ihm das Bücken nicht gut. Sein Magen will nicht mehr gehorchen.

Bruder Johann hat also das Ganze.

Wir tun unser Bestes, damit nichts „Schlimmes“ passiert.

Und doch muß irgendein Vorkommnis den Frieden gestört haben. Ich weiß nicht mehr, um was es sich handelte; aber als Jüngster war ich der Schuldige und mußte den Sündenbock spielen.

Auch diesmal suchte ich mich durch die Flucht zu retten. In Schwester Gritt sehe ich den schützenden Engel, und sie nimmt mich in die mütterliche Obhut.

Doch Bruders Jähzorn reißt ihn mit: Mit der Peitsche holt er aus, und trifft statt meiner Schwesters Oberarm, als sie sich schützend zwischen uns beide stellt.

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So war ich wieder die Ursache eines Zwischenfalls, und Vater hatte wahrlich in die Zukunft geschaut, als er mich aus dem Bauernbetrieb heraus in einen andern Beruf haben wollte.

Ich glaube, es hat lange gedauert, bis dieser Tag einigermaßen vergessen war. Mir hat jedenfalls das Ereignis und noch manches ähnlicher Art die Lust am Bauernspielen vollständig geraubt. Nur die Aussicht auf meinen zukünftigen Lehrerberuf und die nette Zusammenarbeit mit Schmitz Johann ließen meinen augenblicklichen Ehrgeiz im „Schaffe“ nicht erlahmen.

 

- 15 -

Bauernstolz

 

Wir beide hatten uns verschworen, den Rekord im „Frühaufstehen“ zu schlagen.

„De Pitteschpaste Paul soll morje nett de irchte sein“.

Mit diesem Gedanken beschäftigten wir uns heute den ganzen Tag, und der Johann, ein Pfiffikus seiner Art, wusste Rat:

„En de Schauer (Scheune) schlofe mir, dann sein mir iher wach.“

Gesagt, getan!

Unsere Scheune war nur schwach belegt. Das im Vorjahr eingebrachte Stroh neigte sich zu Ende. Da wurde von Zeit zu Zeit eine Fuhre vom Barmen als Ergänzung des Vorrats herbeigeschafft und ins „Unterlaß“, ein Raum neben der Tenne, geworfen.

Dort schlugen wir unser Nachtquartier auf, das sehr einfach eingerichtet ward: Ein Bettlaken und eine Pferdedecke war alles, was wir vorgesehen hatten.

Mutter, die unser Vorhaben ja wissen mußte, riet uns ab; sie war um unsere Gesundheit besorgt.

Doch uns beiden konnten ihre Einwendungen nicht einleuchten. Ein Junge von 14 Jahren hat bestimmt schon Abenteuerlust. Uns so fassten wir die Sache auf.

Wir erhielten dann auch ein ziemlich großes Bettlaken aus selbstgesponnenem Leinen, mit einer dicken Naht in der Mitte, und machten unser „Bett“ mitten ins Stroh hinein, wobei wir am Kopfende das Stroh etwas höher knuppelten. Die Pferdeecke als Plumeaux lag zurecht.

Das <Schlafengehen vollzog sich heute rasch, und ich glaube, Vater hat geschmunzelt, als ihm Mutter spät abends unser Tun erzählte. Er wusste sicher um solche Quartiere aus der Kriegzeit, die sogar Luxus bedeuteten.

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„Batt mant dau, solle mir de Boxe nett anloße?“

Zweifel in der Ähnlichkeit des Lagers mit einem wirklichen Bett hatte Johann ganz bestimmt, sonst wäre er zu der Frage nicht gekommen.

Doch mein entschiedenes Verneinen verscheuchte alle Bedenken seinerseits; wir zogen uns bis aufs Hemd aus, und lagen binnen Minuten auf dem abenteuerlichen Lager.

Angst hatten wir vorläufig nicht; diese Frage war bis jetzt nicht angeschnitten worden, da uns „Amme“ mit der Sturmlaterne noch herumhantierte, ohne von uns etwas zu merken. Auch leitete der immer zu spät kommende Bauer noch seine Pferde zur Tränke, noch war allenthalben Leben – bekanntes Leben – in der Gegend.

Doch schlafen konnten wir nicht. Wir mußten zunächst ja die Vorzüge unseres „Bettes“ auskosten und die jeweiligen Feststellungen gegenseitig begutachten.

Es wurde immer stiller um uns und dunkler.

Die leeren Scheunenräume erzeugten ein unheimliches, dumpfes Echo unserer Unterhaltung, als ob die Geister unserer Ahnen, von denen Vater so gern erzählte, den Worten gelauscht und sie gespensterhaft nachgemurmelt hätten.

Wir versuchten, mit Flüsterton sie zu bannen.

Da erhoben sich auf den leeren Gerüstbalken über der Tenne schemenhafte Gestalten, die im Scheine des durch einen Dachritzen fallenden Mondlichtes die sonderbarsten Formen annahmen.

„Dau, Johann, kannst dau ebbes sehn do ower?“

„Dau bers jekkesch, datt ers dach neist.“

Und schon knisterten die Gestalten in das hoch oben auf dem „Katzenbalken“ gelegene Wiesenheu.

Meine Phantasie war beruhigt.

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Wir schienen da eingeschlafen zu sein; denn ein „Etwas“ ließ uns auffahren, so urplötzlich, wie nur ein Festschlafender es tun kann.

Es war weg.

Noch versuchten wir weiterzuschlafen, da fühlten wir ein stechendes Jucken an dem für den Bauer so wichtigen Körperteil.

Wir öffneten die Augen vollends, etwas zu sehen. Doch es dunkelte noch zu sehr, nur ein spärlicher grauer Schimmer versuchte durchs Scheunentor zu dringen.

Nach unsrer Unterlage, dem Bettlaken tasteten wir; sie war verschwunden.

Sollte da ein Kobold die Hand im Spiel gehabt haben?

Langsam und vorsichtig ließen wir uns in die Tenne zur ebenen Erde gleiten. Das Jucken wurde unerträglich.

Johann machte eine Feststellung:

„Mir han off dämm Strih jeschlofe.“

Unsere Beine und Anfänge des Oberkörpers zeigten Spuren der “Röteln“, so hatten uns die scharfkantigen Halmenden der Strohunterlage zugesetzt. Der unruhige Schlaf, hervorgerufen durch das neue, ungewohnte „Bett“, die geisterhaften Erscheinungen waren die Ursache unserer Tätowierung.

Doch die Grundursache entdeckten wir erst acht Tage später, als wir im Pferdestall ein Dutzend Ratten auf einen Schlag zur Strecke brachten.

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Wir zwei aber haben nicht mehr in der Scheune geschlafen, ohne die Hosen anzulassen.

Doch der Zweck war erreicht: Um fünf Uhr kamen wir mit einer Fuhre saftigem zweiten Klee nach Hause, und Pitteschpaste Paul begegnete uns zur Ausfahrt.

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Der Rekord im Frühaufstehen war also durch uns gebrochen. Lange hielten wir die erste Stelle.

Das Scheunenlager wurde aber bald aufgehoben, da die Erfahrung uns eines besseren belehrt hatte. Ganz heimlich machten wir Stellungswechsel in den Futterstall neben unsern braven Pferden. Hier war das richtige gefunden. Wie romantisch das Geknabber der Tiere an den Klee- und Heuhalmen!

Erst nach Wochen entdeckte man das neue Quartier.

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Das erste Morgengrauen ließ uns täglich erwachen, und mit fanatischem Eifer schafften wir, bis keine Arbeit mehr zu tun blieb, hätte ich beinahe gesagt, aber bei uns gabs immer zu „schaffe“.

Sobald im März die Fröste nachließen, gings hinaus mit Pflug und Egge, den Acker zu stürzen und einzurichten für die Frühjahrssaat. Der März war der Hafermonat.

Inzwischen wurde Mist gefahren, die Jauchegrube geleert. Die „Rummelfelder“ (Knollenfelder) verlangten ordentlich Dung. Den dicken Rest im „Pudelsloch“ behielt sich Mutter vor für den Garten. Da hättet ihr mal sehen sollen, wie ein Beet nach dem andern mit dieser zähen Schlammasse überschüttet wurde. Vater bedauerte ja manchmal, für diesen Zweck ihm entrissen ward; aber es half nichts: Mutter war stolz auf „ihren“ Garten.

Und da wuchs alles auf dem an sich fruchtbaren, fettsandhaltigen Boden in der Üppigkeit sondergleichen, es sei denn, daß der Regen gar zu lange ausblieb.

Ich hatte Freude n unserm Garten. Dort konnte ich mein keimendes Kunstverständnis entfalten: Die Wege nett gestalten, alle Arten Blumen züchten, diese und die Beerensträucher an Stöckchen binden und dergl. mehr.

Auf diese Weise stieg ich in der Gunst der Mutter. Auch Vater freute sich ob meines Sinnes für solche feinere Arbeit. Bruder Johann sah natürlich auch hierin nur „dummes“ Zeug.

Doch verfolgen wir weiter den Jahresverlauf

Das Säen der Sommerfrucht war beendet. Im lieblichen mai sprosste das erste Grünfutter, und nicht lange dauerte s, da verzichteten Pferde und Rinder auf Heu und Stroh. Immer schonungsloser wurde in dem Morgen Klee vorgegangen. Die Sense genügte nicht mehr. So fuhren wir denn täglich mit dem Zweispänner und angehängter Mähmaschine hinaus.

Wir wollten die ersten sind, und das Morgengrauen begrüßte uns gewöhnlich erst auf dem Acker. Von Pitteschpaste Paul war meistens noch nichts zu merken, geschweige denn von den übrigen Bauern.

Es regte sich schon langsam der Neid gegen den „Schmied“, dessen Geschäft blühte wie noch nie.

Und desto mehr wirkten wir.

Mit stolz erhobenem Haupt saßen wir bei der Rückfahrt auf unserm schwer beladenen Wagen mit dem saftigen Klee, während die Pferde frohgemut den heißen Atem durch die Nüstern in die frische Maienluft bliesen.

„Do kumme de zwei ad wieder!“

Und wenn der Kaffee noch nicht fertig war, so hielten wir beide uns für berechtigt, dieserhalb das weibliche Hauspersonal an seine Pflichten zu erinnern.

Wer arbeitet, der hat auch etwas zu sagen“, das betrachten wir als natürlichen Grundsatz.

Das Haus stellte sich auf unser Frühaufstehen ein, und wir waren deshalb in allen Bauernarbeiten die ersten.

Besonders „wühlten“ wir bei der Ernte. Wir wollten doch zuerst unsern „Bor“ (Barmen) Korn zusammen haben. Die Kartoffeln sollten nicht bis Allerheiligen auf dem Felde stehen bleiben. „Lauxer Mard“ (Lukas Markt!) nahte, dann mußten sie aus sein.

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Ja, der „Lauxer Mard“ in Mayen, das war für uns, die nichts zu sehen bekamen, ein Ereignis. Dort fand sich alles zusammen, was auf den Namen Künstler ein Anrecht zu haben glaubte, vom Degenschlucker bis zum Seiltänzer. Schaubude reihte sich an Schaubude. Die eine wies noch mehr geheimnisvolle Bilder und Inschriften auf als die andere, alles darauf eingestellt, jungen und unerfahrenen Menschen die Groschen aus der Tasche zu locken.

Vater und Mutter interessierten sich für die ausgelegten Waren, war es nun ein Haushaltartikel, ein Wäschestück oder ein Gegenstand für den landwirtschaftlichen Betrieb.

Mich fesselten natürlich die Buden, und bei jeder neu auftauchenden bettelte ich eindringlichst um den Groschen.

„Von außen ist es schöner als drinnen.“

Mit diesen Worten schritt Vater voran, an jeder Bude vorbei, um endlich bei den Seiltänzern zu landen. Hier blieb auch er gern stehen und gab seinen Obulus.

Beim Pferdegeschirrhändler wurde noch eine neue Leine, vielleicht auch eine Sonntagspeitsche gekauft, und dann gings zum Zwiebelmarkt, wo die Händler dauernd aus ihrem Vorrat mit einem „Wann“ die losgelösten Schalen entfernten.

Hier kaufte Mutter eine gehörige Portion, um dann bei „Runkels“ ihre Bestände an Kaffee, Zucker, Salz, Öl usw. aufzufrischen. Für mindestens einen Monat mußte es reichen.

Ich bekam dabei mein Tütchen „Zuckersteinchen“, solange ich noch klein war. Bei Waldorfs wurde ein ordentliches Stück Wurst gekauft, nebenan die nötigen Brötchen.

So ausgerüstet bestiegen wir den Wagen zur Heimreise.

Lauxer Mard war für uns zu Ende.

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Wir hatten unsere Pflicht getan, der Winter konnte beginnen. Man wartete auf das neue Frühjahr.

Ich hatte Bauernstolz gelernt.

 

- 16 -

Allerlei Zwischenfälle

 

„Rauher war mein Postillion, ließ die Geißel knallen.“

Dieses Dichterwort paßte auf Bruder Johann, wenn er die Pferde zwischen hatte.

Ich denke da an manche Himmelfahrt, die wirklich uns in den Himmel befördern können.

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So galt es einmal, mit der „Schebbkohr“ (Schlagkarre) Rummele=Runkelrüben zusammenzufahren.

Wir setzen uns zu Hause gemächlich auf das Gefährt, um im „Breite Weg“ abzuernten: Schwester Gritt, Amme und ich.

Bruder Johann steuerte.

Es geht in ruhiger Fahrt auf dem zweiräderigen Ding bis an „Bradill“ vorbei. Die Unterhaltung ist ganz sachgemäß und friedlich.

Da, auf einmal ein Disput, eine Meinungsverschiedenheit!

Der Ärger überträgt sich auf Leine und Pferd. Dies holt vor Angst zu einem Galopp aus, gerade als wir ins Feld einbiegen.

Und plötzlich, wir rutschen, wir fliegen, rücklings vom Karren. Bruder Johann springt zur Seite, die Leine haltend, dem verkollerten Tiere nach ins Weite.

Ich liege heulend und blutend am Boden, nicht wissend, wie es geschehen.

Was war denn geschehen?

Bei dieser Luftfahrt war mein Kopf mit den schwerbeschlagenen Schuhen meiner Mitfahrer derart in Berührung gekommen, daß eine klaffende Wunde sich auftat.

Vater, der wie gewöhnlich zu Fuß ins Feld nachgekommen, hatte nur ein Kopfschütteln.

„Wie konnte das bloß geschehen?“ war seine besorgte Frage.

Nun, der Riegel am Vorderteil des Karrenkastens, der diesen auf dem Untergestell festhielt, hatte sich gelöst, oder war bereits bei der Abfahrt nicht in Ordnung gewesen. Beim Ansprung des Pferdes rutschten wir nach hinten, so daß das Schwergewicht sich dorthin verlegte, und der Karren kippte.

„Datt kann nor dämm passiere!“

Mehr sagte Vater nicht.

Ich trottelte mit verweinten Augen nach Hause und ließ mich von Mutter bedauern.

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Eine zweite „Himmelfahrt“.

Im „Kähr“, das ist ein Seitental des Elzbaches, das zur Geringer Mühle führt, hatten wir einen „Haufen“ gesteigerter Schanzen liegen und zwar in einem Hang der Katzbach. So hieß der kleine Bach, der sich durch dieses kleine Tal der Elz schlängelte. Der Fuhrweg überwindet die große Steigung des Tales durch eine Serpentine, so daß sich zwischen Bach und Weg nochmals ein ansehnlicher hang schiebt, der erst an der Mündung des Baches sich verliert. In dem Hang jenseits des Baches lagen unsere Schanzen.

Wir hätten sie also – so war auch Vaters Meinung – erst hangabwärts bis zum Bache und dann hangaufwärts bis zum Fahrweg tragen müssen.

„Datt ers nett niedech,“ sagte Bruder.

Bruders Meinung kreuzte sich oft mit Vaters Ansicht.

„Ech fohre unne herim de Bach heroff.“

Also durch das Bachbett sollte es gehen.

Vater ließ ihn gewähren, dachte sich das Seine.

Wir zwei Lehrjungen hatten schon den ganzen Nachmittag geschleppt, mit dem nötigen Humor. Dafür verstanden wir uns zu gut.

Gegen Abend hören wir Bruder Johann herangepirscht kommen. In hellem Tempo geht’s „de Bach heroff“. Die Äste des überragenden Gestrüpps krachen und ächzen, die Eisen des braven „Braun“ schlagen klatschend auf die Bachsteine. 

Wir spähen nach dem Gefährt.

Da taucht es zwischen den Baumlücken auf. Bald sehen wir des Pferdes Kopf, bald die linke, bald die rechte Hälfte des Karrens, der, wie von wilden Wellen geschaukelt, in dem unebenen Bachbett sich nur mühsam auf den Beinen hält.

„Hüh!“

Der Karren steht, das Schauspiel ist zu Ende, wir warten der Dinge, die da kommen sollen.

Uns schreckt vor der Rückfahrt.

„Off datt goht jaht?“ tuschelt mir Schmitz Johann ins Ohr.

„Batt hat ihr Kretz wieder ze murmele?“

Schweigend packen wir zu, den Karren zu laden.

„Fertig! Joh!“

Hochbeladen schwankt der Karren!

Braun wirft sich ins Zeug, im Hurra geht’s über Stoch und Stein, wir beide eilen nach.

Gespensterhaft zwängt sich der Karren durchs Gestrüpp, so daß hinter ihm die Eichen- und Buchenreiser wütend zusammenschlagen, uns die Aussicht auf das Gefährt verdeckend.

Doch da ist es wieder, es fährt noch.

Da scheints zu halten, es war in eine Vertiefung verschwunden, Braun hatte seine Beine verloren.

Es taucht wieder auf, rechts stellt sich ein vorspringender Fels in den Weg, das Rad raupt sich empor.

Ein Krach im Geäst, links seitwärts neigt sich die Ladung, es geht nicht mehr.

Das ganze Gefährt liegt im Bach, das Pferd im Geschirr verwickelt.

Ein Fluch aus Bruders heißer Kehle läßt uns das Furchtbare erkennen.

Nur mit vieler Mühe können wir unsern braven Braun au seiner Lage befreien. Das Geschirr müssen wir zerschneiden, so war er in den Karrenbalken eingezwängt.

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Am andern Tage tragen wir doch die Schanzen den zweiten Hang hinauf.

 

- 17 -

Neue Hoffnungen

 

Inzwischen bereitete ich mich fleißig auf meine Einstellungen in die Präparandenschule in Boppard vor.

Es tat mir oft sehr dick neben der starken Inanspruchnahme im elterlichen Betriebe, so daß der Lehrer Pies mich oft unvorbereitet ertappte. Doch er zeigte Lammsgeduld; er wusste meine schwierigen Verhältnisse zu würdigen.

Hier will ich noch eine Angelegenheit einschalten, die zur Kennzeichnung eines damaligen Dorflehrerlebens unbedingt gehört.

Unser Pies hatte nämlich inzwischen an die Gründung einer Familie gedacht. Es traf sich in meinem letzten Schuljahre, daß er den Entschluß zur Tat werden ließ.

Nicht die schlechteste Wahl hatte er getroffen (So kam es uns Jungen wenigstens vor; wir kannten ja noch nichts von Liebe und dergl. mehr).

Seine Gattin Pitteschpaste Gritt, von deren Mutter und Bruder schon Gehört, war ein stattliches Mädchen, hatte lange Jahre in der Großstadt bei Herrschaften in Stellung zugebracht und machte sich als Lehrersfrau ganz gut. Sie brachte auch das nötige „Nebenbei“ mit, was für einen Lehrer der damaligen Zeit nicht gerade unvorteilhaft war.

Wir Jungen hatten vor ihr genau so viel Respekt wie vor dem Lehrer selbst. Sie war uns fremd gewesen und geblieben. Ein anderes Dorfmädchen hätte diesen Vorzug nicht gehabt.

(Nutzanwendung für junge Lehrer: Nimm dir keine Frau aus deinem Wirkungskreise, die von groß und klein gekannt und erkannt ist)

Es stellte sich auch abmachungsgemäß der Klapperstorch ein.

Trauda wurde das zarte Geschöpf genannt; denn zart war sie bestimmt – noch heute ist sies, nachdem au ihr eine Lehrerin, in der Nähe von Düsseldorf angestellt, geworden ist – obschon sie der erste Nachkomme eines so kräftigen Vaters und einer so großen Mutter war.

Wir Jungen wurden rechtzeitig in den Dienst der Lehrerfamilie eingespannt. Wie – wenigstens die vertrautesten – durften einkaufen, Holz klein machen u.a.m.

Und als die Trauda soweit war, daß man sie einem 14-Jährigen anvertrauen wagte, da ruhte sie eines Tages sanft in meinen Armen. Das war auch Privatstunde. Pies konnte mich zu allem gebrauchen.

Ich tat es gern und hätte es nach 20 Jahren lieber getan, meinte mein pensionierter Kollege Grunewald aus Bergheim, als er vor einigen Jahren mit seiner damaligen Kollegin Trauda Pies hier in Menden mir einen Besuch abstattete.

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So rückte langsam der Sommer 1899 heran.

Meine Kenntnisse schienen Pies zu genügen; denn er entließ mich mit den größten Hoffnungen und den besten Wünschen für die Zukunft.

Ich hatte auch allerlei in mich aufgenommen:

Bibel und Katechismus beherrschte ich fließend. Eine Reihe Gedichte haftete in meinem Gedächtnis, auch wusste ich etwas von den landläufigen Dichtern (Uhland, Geller, Bürger, Schwab, Rückert, Schiller, Goethe) zu sagen, wenigstens, wo sie gelebt hatten. In der Erdkunde war ich daheim, d.h. Flüsse, Berge, Städte konnte ich so am Schnürchen herleiern. Die Geschichte zog sich wie an einem Faden durch mein Gedächtnis, von den alten Deutschen angefangen bis zum Kriege 1870/71. Kein preußischer Herrscher war mir fremd. Wohlgemerkt: alles im Gerippe – Auf der Geige spielte ich sämtliche Lieder in der ersten Lage bei krampfhafter Umklammerung des Geigenhalses. Dem Klavier entlockte ich sogar die leichten Sonatinen von Clementi. Auch in der Natur hatte ich manches Tierchen und Blümchen kennen gelernt. So ausgerüstet mit „Wissen“ schickte mich Pies in die großen Ferien. Dann sollte ich nach Boppard.

 

- 18 -

Noch ein Intermezzo

 

In Gering gabs plötzlich eine Sensation.

Irgendeiner hatte ein „Veloziped“ (Fahrrad) bekommen. Wie mich das reizte und prickelte! Das mußte ich auch lernen.

Schon hatten wir (Hoffmännches Antun und Johann waren dabei) das Rad zum Lernen erhalten. 

Also gings hinauf auf den „Kehriger Weg“. Das war die richtige Stelle: Eine schöne glatte Straße mit dem nötigen Gefälle.

Zuerst wurde das Lenken versucht; denn die Maschine lief ja von selbst bergab. Es ging abwechselnd aufs Rad und vom Rad, d.h. auf den „Pinn“ und von dem „Pinn“.

Nun wird’s gewagt.

„Ech sätze meh droff.“

„Manst dau ett jing?“

„Ett moß john.“

Und schon fahre ich in hellem Tempo in Richtung Kehriger Wiesen, die Lenkstange krampfhaft haltend, nicht nach rechts und links schauend.

„Wenn mir niemand in den Weg kommt“, dachte ich.

Es ging gut, wäre nicht die doppelte Krümmung mit verdoppeltem Gefälle gekommen!

Und sie kamen, all die Schwierigkeiten auf einmal, und ich mache bei der letzten Krümmung einen tadellosen Salto über die Hecke am Wegrain linker Hand, ohne tödlichen Ausgang, ja ohne besondere Verletzung.

Das war die Mutprobe, und ich hatte sie bestanden. Meine Genossen dagegen hatten die Lust verloren. Ich durfte mit dem Rad ins Dorf zurückfahren, keiner machte es mir streitig.

An Hoffmännches Heiligenhäuschen besteige ich das Stahlroß. Es geht famos die „Kollewies“ herunter, und wie ein Sieggekrönter fahre ich mit stolz erhobenem Haupte ein ins Dörfchen, wage sogar nach rechts und links zu schauen, ob die Aufmerksamkeit der Bauern auch auf mich gerichtet ist; denn stolz war ich immer auf mein Können.

Doch mit des Geschicken Mächten.

Das holprige Pflaster bringt mein Gestell ins Wanken.

Doch es macht nichts, die Straße ist menschenleer.

Da kommt urplötzlich „Schostech Bas Amme“ aus einem Hause quer über die Straße gehumpelt (Sie hatte ein Gebrechen am Fuß).

Ich schlage einen Bogen um sie herum; aber den verkehrten und fahre ihr in den Rücken, daß sie zur Erde fällt.

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Aus war es mit der Fahraderei!

Eine empfindliche Tante hatte ich behelligt – sie war nebenbei Handarbeitslehrerin – und das Geschimpfe und Gezeter dauerte Wochen.

Es war ein Glück, daß ich bald abreiste.

 

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Abschied aus dem Elternhause

 

Die letzten Vorbereitungen zur Boppardreise wurden mit Beschleunigung getroffen. Mutter ließ mir noch secs neue Leinenhemden in Mayen bei „Haupts“ anfertigen, damit der Jung versorgt sei. Die nötigen Strümpfe waren inzwischen gestrickt worden. Der Schuster hatte seine Pflicht getan und wieder ein Kalbfell - aus eigener Schlachtung herrührend - stark mitgenommen. Andere Kleinigkeiten waren gelegentlich einer Mayenfahrt auch besorgt worden.

Noch ein Sonntagsanzug wäre notwendig gewesen, um im städtischen Leben meine Herkunft nicht so sehr zu verraten (Die Schuhe taten schon das Ihrige, vielleicht auch noch manches andere!)

„Den wollen wir in Boppard kaufen“, war Vaters Meinung.

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Mit rührender Liebe hatte Mutter alles eingepackt.

Von „Andres“, dem einzigen Schreiner im Dorf, hatte Vater für 10,- M einen Holzkoffer erstanden (Margarete besitzt ihn jetzt).

Andern Tags fuhr Bruder Johann uns, Vater und mich, nach Hatzenport zur Bahn.

Ich grüßte von den Maifeldhöhen zum letzten Mal mein Heimatdörfchen, von dem allerdings nur der mit der Jugend eng verknüpfte Kirchturm zu sehen war. Mit gemischten Gefühlen hatte ich Abschied genommen von Mutter und Schwestern, von Onkeln und Tanten, von Vettern und Basen, von Jugendfreunden und -freundinnen und auch vom Lehrer Pies.

Einesteils freute ich mich, meinem Ziel näher zu kommen und aus der Bauernschaft herausgerissen zu sein, andernteils haftete mir der heimatliche Scholle so sehr an den Füßen, daß mir bei der Trennung schier ein Stück Leben entrissen zu sein schien.

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In Hatzenport schleppten wir den Koffer in die 4. Wagenklasse und fuhren ab.

Die neuen Bilder ließen den Trennungsschmerz vergessen. Ich vertiefte mich in die Moselgegend. Vater hatte heute statt der Pfeife gute Zigarren, das Stück zu 5 Pfennig, in der Tasche; er fühlte sich in einer besseren Gesellschaft, und da wusste er sich zu benehmen.

Mit einem Fahrgast war er bald in ein Gespräch vertieft. Doch glaube ich nicht, daß er ihm Ziel und Zweck unserer Reise verraten hat, wie das so Bauernart ist.

Nach kurzem Aufenthalt in Koblenz ging es weiter rheinaufwärts.

Ich sah und bestaunte zum zweitenmale die herrlichen Rheingaue mit den rebenbewachsenen Hängen. Schloß Stolzenfels erhaschte ich gerade noch, ehe auf der andern Seite die Marksburg mich fesselte. Die schweren Schleppkähne, von Dampfkolossen gezogen, erfüllten die Wasserfläche mit leben.

Ich war vollständig von der neuen Welt umstrickt.

Welch eine Zukunft tat sich mir auf! Andere Gegenden, andere Menschen, andere Bräuche, andere Umgangsformen sollte ich kennen lernen. Das Ungeschlachte, das Ungehobelte, Schwerfällige des landjungen sollte abgelegt werden.

Ob ich s schaffe?

Ich kämpfte mit der Mutlosigkeit, wobei Vaters Gegenwart noch eine mächtige Stütze bildete.

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Der Zug rollte durch den „Bopparder Hamm“, das hundertfältige Echo der Berge hallte uns entgegen. Noch einige Minuten.

Wir waren in Boppard.

© 2024 Manfred Rüttgers, Sankt Augustin. Alle Rechte vorbehalten. 

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